Totenpfad
datieren.»
«Danke», sagt Nelson. Plötzlich scheint er Ruth zum ersten Mal richtig anzusehen, und sie wird sich schmerzlich ihrer zerzausten Haare und ihrer schlammverklebten Kleiderbewusst. «Dieser Fund … der ist vielleicht wichtig für Sie, oder?»
«Ja», antwortet Ruth. «Vielleicht.»
«Dann ist ja zumindest einer glücklich.» Er fährt los, als Ruth ausgestiegen ist, ohne sich noch einmal zu verabschieden. Sie rechnet nicht damit, ihn jemals wiederzusehen.
3
Nelson wendet quer über die gesamte Fahrbahn und rast dann nach King’s Lynn hinein. Obwohl er einen Zivilwagen hat, legt er Wert darauf, immer so zu fahren, als wäre er auf Verfolgungsjagd. Er liebt die blöden Gesichter der ahnungslosen Verkehrspolizisten, wenn sie ihn wegen Tempoüberschreitung rauswinken und er ihnen seinen Polizeiausweis unter die Nase hält. Außerdem ist ihm die Strecke so vertraut, dass er sie auch im Schlaf fahren könnte: vorbei am Industriegebiet und der Campbell-Suppenfabrik, über die London Road und schließlich durch das Tor der alten Stadtmauer. Doktor Ruth Galloway könnte ihm jetzt sicher sagen, wie alt diese Mauer ist: «Ganz genau weiß ich es nicht, aber ich schätze, dass sie ungefähr am 1. Februar 1556 erbaut wurde, einem Freitag, kurz vor dem Mittagessen.» Für Nelson ist die Stadtmauer nichts anderes als der Grund für einen weiteren Stau, bevor er wieder auf dem Präsidium ist.
Er ist nicht gerade begeistert von seiner Wahlheimat. Er ist im Norden geboren, in Blackpool, quasi in Sichtweite der Golden Mile. Dort hat er die katholische Schule St. Joseph besucht – die im Ort gern als «Mönchsbunker» bezeichnet wurde – und mit sechzehn als Polizeischüler angefangen. Die Arbeit hat ihm von Anfang an gefallen. Er schätzt die Kameradschaft, die langen Arbeitszeiten, diekörperliche Anstrengung und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Sogar der Papierkram macht ihm Spaß, auch wenn er das niemals laut sagen würde. Nelson ist ein organisierter Mensch, er liebt Pläne und Listen und hat ein Talent dafür, Dinge auf den Punkt zu bringen. Er hat zügig Karriere gemacht und sich schnell ein angenehmes Leben erarbeitet: ein Job, der ihn ausfüllt, nette Kumpels, freitags in den Pub, samstags ins Stadion und sonntags auf den Golfplatz.
Dann wurde ihm die Stelle in Norfolk angeboten, und Michelle, seine Frau, hat ihm zugeredet, sie anzunehmen. Eine Beförderung, mehr Geld und die Möglichkeit, auf dem Land zu leben. Welcher halbwegs vernünftige Mensch, denkt Nelson und hat dabei das Salzmoor vor Augen, will denn schon auf dem Scheiß-Land leben? Da gibt es doch sowieso nur Kühe und Schlamm und Alteingesessene, die aussehen wie das Ergebnis engster Familienbeziehungen über mehrere Generationen. Trotzdem hat er damals nachgegeben, und sie sind nach King’s Lynn gezogen. Michelle hat bei einem todschicken Friseursalon angefangen, die Mädchen kamen auf ein gutes Internat und machen sich seither über seinen Akzent lustig. Er selbst hat sich ziemlich gut geschlagen und es in der Hälfte der üblichen Zeit zum Detective Inspector gebracht. Es war sogar schon von noch Höherem die Rede. Bis Lucy Downey verschwunden ist.
Nelson biegt auf den Parkplatz des Polizeipräsidiums ein, ohne den Blinker zu setzen. In Gedanken ist er bei Lucy und der Leiche aus dem Moor. Im Grunde war er immer überzeugt, dass Lucy irgendwo in der Nähe des Salzmoors begraben sein muss, und als die Knochen aufgetaucht sind, hat er gehofft, er könnte die Sache endlich zu einem Ende bringen. Zu keinem guten Ende zwar, aber doch immerhin zu einem Ende. Und dann kommt dieseDoktor Ruth Galloway daher und erklärt ihm, die Knochen stammten von irgendeiner Leiche aus der beschissenen Steinzeit. Überhaupt, was die ihm alles erzählt hat, von Henge-Monumenten und rituellen Bestattungen und dass man früher bis nach Skandinavien laufen konnte. Anfangs hat er ja gedacht, sie will ihn verarschen. Aber als sie dann am Fundort waren, hat er gemerkt, dass sie ein echter Profi ist. Es hat ihm gefallen, wie langsam und sorgfältig sie vorging, wie sie Notizen und Fotos gemacht und jedes einzelne Fundstück sorgfältig geprüft hat. So muss gute Polizeiarbeit aussehen. Nicht, dass sie zur Polizistin taugte, dafür ist sie viel zu dick. Was wohl Michelle zu einer Frau sagen würde, die schon nach fünf Minuten Fußweg aus der Puste kommt? Vermutlich wäre sie entsetzt. Aber Nelson kann sich beim besten Willen keine Situation denken, in
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