Totenrache und zehn weitere Erzählungen
wüsste.“
„Wohin wissen Sie dann, dass die Wohnung oben die größte ist?“ Der Mann löste Rätsel, indem er neue schuf. „Waren Sie schon einmal hier?“
Sie konnte ihn nicht mehr sehen; aber seine Stimme klang so nah, als hätte er ihr die folgenden Worte ins Ohr gehaucht. „Ich bin in diesem Haus aufgewachsen. Hab' meine Kindheit hier verbracht.“
Täuschte sie sich nur, oder war das Geständnis tatsächlich von einem Schluchzen begleitet worden? Entfernte er sich deshalb so schnell von ihr, damit sie seine Trauer, welche die Kindheitserinnerungen heraufbeschworen hatten, nicht sehen und über sie lachen konnte?
„Warten Sie“, rief sie hinauf. Sie beeilte sich, und der Schweiß lief wieder in Strömen an ihrem Körper hinunter. Dennoch war ihr kalt. Das Treppenhaus war finster und entsetzlich verlassen; seit Jahren schon. Die Zeit hatte alle Spuren von Menschlichkeit dahingerafft. Sie waren vielleicht die ersten Besucher, seit die Plünderer auch den letzten Kram hinausgeschafft hatten. Es war nicht das Klima, sondern diese Vorstellung, die sie frösteln ließ. Aber an eine Umkehr verschwendete sie dennoch keinen Gedanken. Aber was war mit der alten Frau, dachte sie dann, die Dean erwähnt hatte? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie in dieser Ruine lebte, aber sie nahm sich vor, sich nochmals nach ihr zu erkundigen.
Sie musste nicht mehr viele Stufen hinaufsteigen; Dean wartete bereits auf sie, ein bleicher Fleck im Schatten. Von Tränen, ob fließend oder fortgewischt, konnte sie nichts entdecken. Sein Gesicht war eine Fassade, aber eine blühendere als die von 47.
„Wir sind da“, sagte er überflüssigerweise.
Auch diese Tür, von der sie standen, war nur zur Zier, nicht zum Schutz da. Hinter ihr erblickte sie einen schmalen Schlauch, von dem mehrere Räume abzweigten, die bestimmt ebenso unansehnlich waren. Aber was hatte sie erwartet? Eine Familie, die ihren Sohn und dessen Bekanntschaft begrüßte oder das Fernsehprogramm verfolgte?
Sie betraten die Wohnung. Hier fand sich nur das Chaos, für das nicht ein Mensch, sondern im Gegenteil dessen Abwesenheit die Verantwortung trug. Schimmel kroch von der von Feuchtigkeit schwarzen Decke herab und gesellte sich zu dem, der vom Boden heraufquoll. Dieses Bild der völligen Verwahrlosung war ein Bild zum Weinen, hier fanden sich nirgends Schutz und Behaglichkeit. Nicole hörte ein Knistern und Rieseln im Gebäude und befürchtete einen Augenblick lang, es könne jetzt, da es Menschen im Leib hatte, endlich einstürzen.
„Das war das Wohnzimmer“, klärte Dean sie auf. Seine Stimme klang belegt, so voller Trauer. „Und dort die Küche.“
Da Nicole nichts darauf zu entgegnen wusste, blickte sie aus dem Fenster hinaus, durch jene Stellen des Glases, die noch eine passable Sicht boten. Sie erkannte nichts Atemberaubendes; dazu war die Gegend zu trist. Aber es schien besser, als Dean jetzt in die Augen zu blicken. Was auch immer er jetzt empfand, er musste damit allein fertig werden.
Sie fühlte und hörte, dass er sich ihr näherte, und bald stand er direkt hinter ihr, und sie bereitete sich innerlich auf die Berührung seiner Hände vor.
Aber er sagte lediglich etwas zu ihr: „Ich möchte dir mein Zimmer zeigen.“
Nicole erwartete einen weiteren öd-kalten Raum, dessen einzige traurige Sehenswürdigkeit der Schimmel war, aber sie wurde eines Besseren belehrt. Als sie die Türschwelle überschritt, spürte sie einen weichen Teppich unter ihren Schuhen, der zweifellos gut gepflegt war. An den Wänden gab es kein Anzeichen von Schimmel oder Feuchtigkeit, stattdessen erkannte sie die Muster einer makellosen Tapete. Es standen nicht viele Möbel in dem Raum; Nicole sah lediglich einen kleinen Schrank, dessen Türen und Schubladen geschlossen waren, und einen Tisch und um ihn herum zwei Stühle. Statt eines Bettes gab es nur eine Matratze, und überall im Raum waren erloschene Kerzen verstreut, die auf Büchern oder Tellern standen, damit das tropfende Wachs den Teppich nicht ruinierte.
Über all dem hing ein schwacher, kaum wahrzunehmender, für Nicoles angespannte Sinne jedoch ein nicht zu ignorierender Duft. Nicht die übliche Ansammlung von Staub und bitterer Abgestandenheit wie sonst überall im Haus: Es roch ohne Zweifel nach Anwesenheit, nach menschlichem Leben und geronnenem Schweiß. Wahrscheinlich kam Dean oft in dieses Haus, und welcher Drang es auch war, der ihn hier hinführte: Nicole fand ihn süß. Aber sie konnte es
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