Totenreigen
Frau, die vor ihm zurückwich. Oder das
Pärchen, das sich leidenschaftlich und hemmungslos in der Waggontür zum
Abschied küsste. Na ja, bei denen glaubte er es zu wissen. Aber auch da konnte
man nicht sicher sein, vielleicht war Berechnung im Spiel.
Sein seit Jahrzehnten geschulter polizeilicher Blick, den konnte er
nie aus der Verantwortung entlassen, obwohl er wusste, dass man in diesem
Durcheinander nichts Verdächtiges, polizeilich Relevantes entdecken würde.
Hilly hatte recht, einen Urlaub, away from it all , brauchte er dringend. Auch sein Arzt hatte ihn gewarnt. Diese
ständige manische Suche, dieses unermüdliche Verknüpfen verschiedener
Beobachtungen, um etwas Verdächtiges zu finden, war nur ein Symptom für
psychovegetative Dekompensation. Auf Deutsch: Er war ausgebrannt und
urlaubsreif. Er wollte sich ein paar Wochen nur auf Hillys schönes Antlitz
konzentrieren. Garantiert ohne polizeilichen Blick. Hilly hatte übermütig eine
Kreuzfahrt mit den Hurtigruten entlang der norwegischen Küste vorgeschlagen. Er
hatte von einem dänischen Ferienhaus an der Ostseeküste geschwärmt, mit
Kamin. In beiden Fällen wäre wohl kein Duborger Bock, aber ein dunkles
Carlsberg sicherlich greifbar.
Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Es gab in diesen modernen,
klimatisierten, laufruhigen Regionalbahnen auf der Strecke Kiel–Flensburg für
den ganzen Zug nur eine Toilettenkabine. Es war besser, jetzt pinkeln zu gehen,
denn nach der Abfahrt entschlossen sich alle wie auf ein geheimes Signal,
gleichzeitig die Toilette zu besuchen.
Er überlegte, seinen Rucksack mit auf die Toilette zu nehmen. Lüthje
entschuldigte sich bei seinem Sitznachbarn, zog den Bauch ein und ging durch
die Sitzreihen nach vorn. Im Augenwinkel sah er, wie ein Mann am Zug
entlanglief, und stieß fast mit ihm zusammen, als der durch die offen stehende
Waggontür sprang und direkt neben Lüthje vor der Toilettentür stehen blieb.
Besser gesagt, er fror in der Bewegung ein. Mit gesenktem Kopf, so als ob er
sein Gesicht verbergen wollte. Drehte sich dann elegant auf einem Fuß um,
sprang aus der Zugtür und verschwand. So sicher und geschickt, als ob er den
ganzen Tag nichts anderes täte. Jeder Handgriff, jede Bewegung hatte gesessen.
Als Lüthje sich wieder auf seinen Platz gezwängt hatte, sah er
suchend aus dem Fenster. Der Mann war verschwunden. Es musste sehr dringend
gewesen sein, sonst hätte er gewartet, bis Lüthje fertig war.
Plötzlich tauchte er wieder auf dem Bahnsteig auf und verschwand in
der jetzt freien Toilettenkabine. Nach höchstens fünf Sekunden riss er die
Toilettentür wieder auf und war auf dem Bahnsteig verschwunden. Hinter dem
Schaukasten mit den Fahrplänen tauchte ein anderer junger Mann auf, wie auf
Stichwort eines Souffleurs, in heller Sommerjacke, wie ein Schatten, verschwand
er vom Bahnsteig in der Toilettenkabine, kurz danach riss er die Tür wieder auf
und lief tänzelnd in Richtung Bahnhofsvorhalle. Ein gedopter Sportler und ein
bekiffter Balletttänzer.
Es war wie immer alles eine Frage der Perspektive. Lüthje stand
wieder auf, quetschte sich an seinem genervten Sitznachbarn vorbei, lief
zwischen den Sitzreihen durch und sah durch die Fenster zum benachbarten
Bahnsteig. Dort lief die gleiche Vorstellung, Traumtänzer zwischen den
Zugtoiletten. Wer nicht das Detail im Auge hatte, sah nicht das kriminelle
Muster im Chaos. Es war eine perfekte Tarnung.
Lüthje ging wieder zur Toilette. Sie war besetzt. Ausgerechnet
jetzt. Er klopfte.
»Ja doch, Moment«, hörte er eine ärgerliche Frauenstimme rufen.
Nichts passierte. Er klopfte nachdrücklich. Kurz danach öffnete sich die Tür,
und eine junge Frau sah ihn ärgerlich an, während sie einen kleinen Jungen mit
beiden Händen herausschob, der versuchte, sich einen Hosenknopf zu schließen.
Lüthje zuckte entschuldigend mit den Schultern und bemühte sich, ein verlegenes
Gesicht zu machen. Er schob mit sanfter Gewalt Frau und Kind beiseite, die sich
nun beide um den Hosenknopf bemühten.
Lüthje schloss die Toilettentür hinter sich und zog das Handy aus
dem Rucksack. Stöver vom Sachgebiet Drogen war in Pension, den Nachfolger
kannte er nicht, jedenfalls nicht persönlich, geschweige denn die
Telefonnummer. Seit Lüthjes selbst betriebener Versetzung nach Flensburg hatte
sich in Kiel personell einiges verändert. Er musste einen Kollegen aus Kiel an
die
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