Totenreigen
Promenadenweg
zur Strandstraße oder vom Hexenstieg einen Blick auf das Haus erhaschen. Jedes
Mal wird er dem Haus näher gekommen sein. Vielleicht nur einmal im Jahr oder
öfter. Sicher wuchs auch der Wunsch in ihm, Ihnen zu begegnen. Und dann kam der
Tag, am vergangenen Sonntag, da hing Ihr Kleid an der Hauswand, wie damals.«
Ursula Drübbisch hielt die Faust vor den Mund, als wollte sie einen
Schrei unterdrücken.
»Er ging zum Grundstückseingang und sah das Schild ›Dieses
Grundstück ist zu verkaufen‹. Der Wunsch, dieses Haus wieder zu betreten, wurde
übermächtig. Als er auf die Klinke drückte, öffnete sich die Tür. Er stand im
Flur.«
Sie sah Lüthje mit Tränen in den Augen an und schüttelte den Kopf.
Er sollte es nicht aussprechen.
»Er hat den Tatort von damals vor sich gesehen, den Mord, den er vor
einer Ewigkeit begangen hat. Rainer Stolze muss geglaubt haben, Hermann
Drübbisch in seinem Blut zu sehen. In Wirklichkeit war es dessen Sohn. Aber so
ähnlich hat Hermann Drübbisch damals ausgesehen.«
»Sie sahen sich wirklich sehr ähnlich«, schluchzte sie.
»Rainer Stolze ist in einem Schockzustand aus dem Haus gegangen, zur
Bushaltestelle, wo ich ihn dann ansprach und mich gewundert habe, warum er sich
so seltsam benimmt und woher er diesen feuchten Schmutzstreifen an seinem
Mantel hat, der das Blut Ihres Sohnes war. Ich bin mit Rainer Stolze im Bus
nach Kiel gefahren, habe ihn auf der Straße zusammenbrechen sehen. Jetzt weiß
ich, dass er unter der Last des Erlebten zusammengebrochen ist.«
Vielleicht hat er im Bus so oft auf die Uhr gesehen, weil er wusste,
dass seine Zeit ablief, dachte Lüthje.
»Er hat es mir nie gesagt«, sagte Ursula Drübbisch. »Aber ich hab es
immer gespürt. All die Jahre. Er war es und nicht dieser dumme DDR -Agent, der in der Nähe gesehen worden ist und
meinen Mann beobachtete.« Sie sah Lüthje erschrocken an. »Wird man Rainer jetzt
anklagen? Ich habe Schuld, dass er ins Gefängnis kommt!«
»Sie haben das Kleid dorthin gehängt, den Rest hat das Schicksal
besorgt«, sagte Lüthje. »Außerdem haben wir keine Beweise. Was ich Ihnen eben
erzählt habe, sind Vermutungen, die ich auf gewisse Beobachtungen stütze, das
ist alles. Und das reicht für eine Anklage nicht. Die Spurensicherung von
damals hat sich keine Lorbeeren verdient. Man hatte ja den Täter, den man
wollte.«
»Ich habe Rainer heute im Krankenhaus besucht«, sagte Ursula
Drübbisch unvermittelt.
»Sie wussten doch gar nicht, in welchem Krankenhaus er liegt!«
»Ich habe herumtelefoniert«, sagte sie mit müdem Lächeln.
»Hat man Sie ins Zimmer gelassen?«
»Natürlich. Als ehemalige Arbeitskollegin und Freundin. Er hat ja
keine Verwandten mehr. Die Stationsschwester ist dabei gewesen. Und meine
Umhängetasche musste ich beim Polizisten vor der Tür lassen. Ich habe ihn
angesprochen«, sagte sie mit einem Anflug von vorsichtigem Stolz in Gesicht.
»Im selben Moment hat er die Augen geöffnet und mich lange angesehen. Er hat
gelächelt, und er hat ein paar Worte gesprochen.«
»Was hat er gesagt?«
»Das werde ich Ihnen nicht verraten«, sagte sie bestimmt. »Und ich
glaube, die Schwester wird das auch nicht tun.«
Sie schwiegen, bis sie Laboe erreichten.
»Ich steige hier nicht aus«, sagte sie. »Ich fahr gleich zurück.«
Sie umarmte ihn sacht.
»Danke für alles«, sagte sie.
Sie war etwas größer als Hilly. Ihre Haare kitzelten ihn an der
Nasenspitze.
Als Lüthje ausgestiegen war und sich umwandte, sah er sie winkend an
der Reling des Oberdecks stehen. Die Fähre legte ab.
»Danke!«, rief sie.
Er blickte ihr nach, bis die Fähre eine kleine Wendung machte.
Über Kiel stieg eine dunkle Wolkenwand auf. Er nahm sich vor, die
Unwetterprognose anzusehen.
6.
Lüthje betrachtete die Auslagen im Fenster des
Fahrkartenkiosks auf der Anlegerbrücke.
»Sind die zwei Flaschen Probsteier Herold noch gut? Die da oben auf
dem Regal stehen?«
»Na, hören Sie mal, Herr Kommissar! Bier wird bei mir nicht
schlecht«, sagte die Frau.
»Sagten Sie ›Kommissar‹?«
»Oder darf ich Sie mit ›Herr Lüthje‹ anreden?«
»Woher wissen Sie, dass ich Kommissar Lüthje bin?«
»Na ja, Sie sind der Einzige in Laboe, der immer mit einem Rucksack
rumläuft.« Sie holte sich einen Hocker und hangelte das Bier vom Regal. »Sogar
auf dem Fahrrad. Ein Damenfahrrad mit Korb. Macht vier Euro.«
Sie stellte die beiden Flaschen vor ihm ab.
»Sie können das Fahrrad bei mir reinstellen, wenn
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