Totenreise
Pfads eine dunkle Ebene erkennen. Bald würden sie diesen endlosen Weg verlassen, nachdem sie tagelang – obwohl es eigentlich nur Nächte waren – durch ein überwältigendes Bergmassiv gefahren waren.
Sie hatten Michelle vor Kurzem etwas zu essen und Wasser gegeben; es schien wichtig zu sein, dass sie lebend ans Ziel kam. Sie lag noch immer ausgestreckt da, zu kraftlos, um sich zu wehren. Nachdem sie gegessen hatte, war sie von den schrecklichen Gestalten, die sehr darauf achteten, ihre Haut nicht zu berühren, wieder gefesselt und geknebelt worden.
Zwischen unruhigen Träumen, in denen sie mit ihren Eltern und Freunden zusammen war, stöhnte sie bei jedem Schlagloch vor Schmerz auf. Ihre Handgelenke hatten von den Fesseln tiefe Schürfwunden. Hin und wieder drehte sich eins der gespenstischen Wesen, die sie bewachten, um und betrachtete mit seinen leeren Augenhöhlen genüsslich die Blutstropfen auf Michelles zarter Haut.
Der Zug hielt nie an und folgte dem düsteren Trommelrhythmus, bewegte sich durch undurchdringliche Dunkelheit, deren Magnetismus zunahm, je tiefer sie eindrangen.
Die einzige Veränderung war, dass sie in ihrer Gefangenschaft nicht mehr allein war. Ein Junge von etwa zehn Jahren lag gefesselt und geknebelt neben ihr. Michelle hatte er schrecklich leidgetan, als sie ihn herbeigeschleppt hatten, doch jetzt konnte sie nur noch an sich selbst denken.
Um diesem Albtraum für ein paar Augenblicke zu entkommen, dachte sie an den Tag, als Pascal sie gebeten hatte, seine Freundin zu werden. Sie hatte das Gefühl, dass seither Jahrhunderte vergangen waren.
Was ihre Freunde, ihre Eltern wohl gerade machten?
»Bestimmt suchen sie nach mir«, dachte sie, um sich Mut zu machen.
Doch sogleich kam ihr ein deprimierender Gedanke: Es schien unmöglich zu sein, sie von Paris aus in dieser unbegreiflich dunklen, ja, toten Welt zu finden.
Zum ersten Mal fragte sich Michelle, ob sie vielleicht schon tot war.
***
Der Morgen war ohne Zwischenfälle verlaufen. Jules hatte seine Mutter gebeten, in der Schule Bescheid zu geben, dass er sich nicht wohlfühlte, und dazu ein leidendes Gesicht aufgesetzt … Was prompt zum Erfolg führte: Sie griff augenblicklich zum Telefon. Dominique hatte ein ähnliches Manöver vollführt: Ihm wäre extrem übel seit heute früh; irgendetwas sei ihm nicht bekommen und er würde hier in der Nähe einen Arzt aufsuchen … Jules, der den Dachboden für kurze Zeit verlassen hatte, stieg gerade aus der Dusche, als seine Mutter an die Badezimmertür klopfte.
»Jules!«
»Ja?«
»Du hast Besuch, also beeil dich!«
Er wunderte sich.
»Ist es Dominique?«
»Nein, eine Frau namens Marguerite Betancourt. Wer ist das?«
Jules tat einen Moment, als hätte er nicht verstanden. Marguerite Betancourt? Er kannte niemanden, der so hieß, und schon gar keine Erwachsene. Obwohl ihm der Name irgendwie bekannt vorkam. Wer konnte das sein? Langsam trocknete er sich ab.
»Du hast doch nicht irgendetwas angestellt?«, fragte seine Mutter besorgt.
»Ach was! Mach dir keine Sorgen.«
»Der Aufzug ist schon auf unserem Stockwerk, Jules. Sie ist da. Ich führe sie in den Salon, ja?«
»Okay, danke. Ich bin gleich da.«
***
Sie konnten das Tor bereits sehen; ein großer Steinbogen, der in eine dicke Mauer von mehr als einem Dutzend Metern Höhe eingefügt war. Über dem Tor ragte ein bedrohlich aussehender, düsterer Wachturm in die Höhe.
Allein das Näherkommen an den Durchgang löste in Pascal und Beatrice ein Gefühl von Beklemmung aus, das wohl erst dann wieder verschwinden würde, wenn sie sich davon entfernten.
In die Mauer waren seltsame Symbole eingemeißelt. Sie wirkten – Pascal fand kein anderes Wort dafür – majestätisch. Die ganze Anlage machte einen uralten Eindruck, so alt, als wäre es das Werk einer erloschenen Zivilisation.
Es gab keine Torflügel, die den Durchgang versperren konnten, und im Mauerwerk befanden sich Öffnungen, aus denen die Wächter, die Pascal nicht zu Gesicht bekam, gewiss die Umgebung beobachteten. Pascal frage sich, ob er als Wanderer tatsächlich diesen Grenzposten zum Reich des Bösen einfach passieren konnte. Was würde passieren, wenn nicht?
Rufend kündigte er sich als Wanderer an.
Doch alles blieb ruhig. Kein Wächter zeigte sich, obwohl er zu spüren meinte, dass Beatrice und er beobachtet wurden. So passierten sie unbehelligt das Tor und setzten ihren Fuß auf den Boden des Bösen. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in Pascal aus
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