Totenreise
Anblick, der sich ihnen bot, ließ sie erstarren: Ein Haufen Leute mit brennenden Fackeln umringte den Ghul, um zu verhindern, dass er weglief.
Die Pferde auf der Straße wieherten nervös, weil sie spürten, dass es sich um ein übernatürliches Wesen handelte, das da vom Feuer in Schach gehalten wurde.
»Das stimmt alles mit dem überein, was Mathieu gesagt hat«, stellte Pascal fest. »Weil der Ghul aus einem Pesthaus geflohen ist und halb verwest aussieht, glauben die Menschen, er sei todkrank. So verbrennen sie ihn eher bei lebendigem Leib, als dass sie ihn laufen lassen.«
Und wie aufs Stichwort trieben die Bauern den Ghul mit ihren Fackeln vor das Dorf, schlugen ihn mit Steinen, steckten seine Überreste in Brand.
Pascal hielt es nicht länger hier im Haus. Ein Blick auf das Bett des Kranken zeigte ihm, dass der in der Zwischenzeit sein Leben ausgehaucht hatte. Pascal vermeinte fast zu spüren, wie sich die tödlichen Bakterien in seine Blutbahnen einschlichen.
Rasch kletterte er auf das Fensterbrett und half dann auch Beatrice hinauf. Sie waren im ersten Stock und nicht besonders hoch, also sprangen sie einfach hinaus und rannten, was das Zeug hielt. Nur fort von diesem pestverseuchten Ort, hinaus aus dieser Zeit.
Sie mussten die Tür zur nächsten Kammer finden. Jetzt sofort.
42
»Hallo, Marguerite.«
Die Kommissarin blickte vom Computer auf, als sie ihren Kollegen hereinkommen hörte. Ihr Gesicht hatte vom Licht des Bildschirms eine seltsame Färbung.
»Hallo, Marcel. Du warst nicht zu erreichen, dein Handy war ausgeschaltet. Ich habe erst morgen wieder mit dir gerechnet. Was tust du hier um diese Zeit?«
»Ich nehme an, dasselbe wie du. Der Fall Delaveau treibt uns um.«
Marguerite nickte. Dann zeigte sie auf die große Sporttasche, die Marcel über der Schulter trug.
»Und das da? Kommst du vom Training?«
Er lachte kurz auf.
»Nein. Das ist nur mein … Werkzeug. Ich werde es heute Nacht brauchen, ich spüre es.«
Marguerite verdrehte abwehrend die Augen. Sie wollte sich die Holzpflöcke und die anderen esoterischen Gegenstände in der Tasche gar nicht vorstellen.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte sie und stand auf, um auf den Flur zu gehen, wo der Kaffeeautomat stand. »Ich brauche einen.«
»Gern, danke.«
Als Marguerite den kleinen Raum verlassen hatte, ließ Marcel seinen Blick umherwandern, eine Angewohnheit, die er im Laufe der Jahre angenommen hatte. Sein Blick fiel auf Marguerites Pistole, die in ihrem Holster auf einem Regal lag. Marcel überlegte kurz, wann die Kommissarin wohl mit dem Kaffee wieder zurück wäre, und trat vor das Regal. Er nahm die Waffe und wiegte sie mit beiden Händen, um ihr Gewicht abzuschätzen. Dann zog er sie aus dem Holster; sie war vorschriftsmäßig gesichert. Er ließ das Magazin herausspringen und erlebte eine Überraschung. Es war die übliche Dienstpistole, eine 9 Millimeter Melcher HK USP Compact. Doch die Patronen wichen vom Üblichen ab. Marcel lächelte. Die Kommissarin hatte die Pistole mit Patronen aus Silber geladen! Wer hätte das gedacht? Offensichtlich hatte seine Hartnäckigkeit sie dazu gebracht. Er verstand, warum sie ihm nichts davon gesagt hatte; dazu war sie einfach zu stolz.
Der Kaffeeautomat draußen war nicht mehr zu hören, also legte er die Waffe wieder ins Regal und nahm auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz.
Kaum saß er, ging die Tür auf. »Hier, bitte.« Marguerite reichte ihm einen der Plastikbecher. »Haben dir deine seltsamen Theorien dabei geholfen, etwas Neues über das Verbrechen herauszufinden?«
»So seltsam findest du sie doch gar nicht«, dachte er amüsiert und sagte laut: »Ich fürchte, nicht.«
Marguerite lächelte.
»Das überrascht mich nicht. Vielleicht findest du ja morgen Nacht bei Vollmond eine heiße Spur … Oder ist das nur etwas für Wolfsmenschen?« Die Ironie war nicht zu überhören, und Marcel wunderte sich nun doch über die silbernen Patronen in ihrer Waffe.
»Mach mich nur fertig«, bemerkte er ironisch. »Ich kenne dich und weiß, dass du ein herzloser Mensch bist. Hat denn dein messerscharfer Verstand etwas entdeckt?«
Marguerite setzte eine überlegene Miene auf: »Ich will nicht voreilig sein«, gestand sie, »aber es gibt vielleicht einen Verdächtigen. Es geht um den Lehrer, der Delaveaus Job übernommen hat. Er heißt Varney und er hat etwas zu verbergen, das ist sicher. Mir gefällt überhaupt nicht, wie er sich verhält.«
Interessiert beugte sich Marcel vor:
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