Totenreise
verdeckten zum Teil seine Handgelenke. So konnte sie ihm das Armband unbemerkt umlegen. Genau in diesem Moment kippte Pascals Kopf zurück und seine zu Fäusten geballten Hände wurden schlaff. Seine Schreie verstummten in ihm und er spürte nichts mehr. Ein Gefühl der Taubheit befiel seinen Körper. Es war die Erlösung. Augenblicklich unterbrachen die Wächter ihre Arbeit, erschrocken darüber, dass sie offensichtlich zu weit gegangen waren. Pater Martinus brauchte ein Geständnis des Gefangenen über eigene Verfehlungen, aber auch über die anderer. Er brauchte Namen, um seinen Auftrag – »Tod für alle Ketzer« – erfüllen zu können. Im Falle Pascals nun wurde daraus nichts, und den Folterknechten drohte eine schwere Strafe.
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MICHELLE KONNTE ES nicht sehen, doch sie spürte, wie sich die Fessel auf einmal von ihren Handgelenken löste und das Brennen der Schürfwunden nachließ. Sie hatte es geschafft, ihre Hände waren frei. Doch sie veränderte ihre Haltung nicht, um keinen Verdacht bei ihren Entführern zu wecken, und blieb mit den Händen auf dem Rücken neben dem Rad sitzen.
Noch immer gab die Trommel den Rhythmus vor, den Takt in einer leblosen Welt, wo Zeit keine Rolle mehr spielte.
Michelle blickte voller Mitgefühl zu dem gefangenen Jungen hinüber. Ihr fiel auf, dass man ihn brutal gefesselt hatte; nicht nur Seile, sondern auch Ketten waren bis hinauf zur Taille um seinen Körper geschlungen. Sogar der Knebel, der in seinem Mund steckte, schien größer zu sein als der ihre. Warum diese Maßnahmen gegen ein Kind? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass sie, Michelle, versuchen würde zu fliehen?
Der Junge tat ihr unendlich leid, und plötzlich wusste sie, dass sie ihn nicht allein zurücklassen konnte, wenn sie floh. Es verringerte zwar ihre eigenen Chancen auf Rettung, doch ihr wurde eines klar: Wenn es ihr tatsächlich gelingen sollte, sich zu befreien, dann würde sie für immer mit dem Bewusstsein einer tiefen Schuld leben müssen. Wie sollte eine Zukunft in Freiheit aussehen, wenn Kinderblut an ihren Händen klebte? Wie sollte sie jemals wieder ruhig schlafen können bei dem Gedanken, einen unschuldigen Jungen seinem Schicksal überlassen zu haben?
Michelle betrachtete die Umgebung, die sich verändert hatte. Endlich lag die Schlucht hinter ihnen, und es breitete sich, so weit das Auge reichte, eine wüstenhafte Ebene aus; sie war von tiefen Kratern durchzogen, aus deren Mitte dunkler Rauch aufstieg. In der Ferne schwebten dicht über dem Boden Wolken, die sich langsam wie Nebel bewegten.
Es war noch immer dunkel, doch zumindest konnte sie zwischen den Schattierungen einen Horizont erkennen. Diese Öffnung der Landschaft gab ihr Hoffnung. Sie war entschlossen, sich aus ihrer schrecklichen Lage zu befreien. Ganz gleich, ob es ein Albtraum war oder nicht, sie würde kämpfen. Ihr einziges Ziel war, wieder in ihre Welt zurückzukehren, die Welt, aus der sie herausgerissen worden war.
Sie bewegten sich weiter durch diese endlose Kraterlandschaft. Wäre Michelle näher an die überall rauchenden Schlote herangekommen, sie hätte sehen können, dass mit jeder neuen schwarzen Wolke menschliche Überreste hochgeschleudert wurden.
***
Ticktack, ticktack. Jules ertappte sich dabei, wie er dem Ticken seiner Armbanduhr lauschte. Noch nie war ihm Stille so nah, so fühlbar vorgekommen. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
Auch Dominique neben ihm empfand diese lastende Stille.
Er dachte an Pascal … und an Michelle. Er hatte keine Vorstellung davon, was beide vielleicht jetzt, gerade in diesem Augenblick, durchmachten. Doch er wusste, dass sie alles, wirklich alles daransetzten, den Gefahren um sie herum zu trotzen und sie zu bestehen. Das gab ihm Mut und Entschlossenheit.
Der Vampir war auf dem Weg zu ihnen, sie wussten, er war schon ganz nah. Alle drei konnten sie die Aura des Bösen spüren, die von ihm ausging. Eine gewaltige Macht. Daphne, die sah, wie angespannt die Jungen waren, versuchte etwas dagegenzusetzen. »Wir sind in großer Gefahr, wir wissen es alle«, sagte sie. »Es gibt keinen Zauber, um diesen großen Raum vor den Kräften der Vampirs zu schützen. Aber ich habe ein altes Dokument über die Dunkle Pforte gelesen, und darin steht, dass um sie herum eine Art Kraftfeld besteht, welches das Böse schwächt. Solange wir nah genug an der Truhe bleiben, kann uns dies Kraftfeld bis zu einem gewissen Grad schützen.«
»Echt?« Die Information beruhigte Jules ein wenig. »Die
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