Totenreise
aufzuhalten.
Kurz darauf flog die Tür zu dem großen Saal auf und Pater Martinus stürzte heraus.
»Ich hoffe, sie werden einem heiligen Kirchenmann nichts antun«, stammelte er. In Händen hielt er mehrere Aktenbündel. »Wie konnte das nur geschehen? Jemand wird dafür bezahlen müssen!«
Der Pater wurde von vier bis zu den Zähnen bewaffneten Wachleuten eskortiert, und sie beeilten sich, aus der Gefahrenzone zu kommen. Durch eine Tür in dem langen Gang, versteckt in einem mächtigen Schrank, machten sie sich davon. Pascal versicherte sich noch einmal, dass die Luft rein war, verließ die Nische, in der er ausgeharrt hatte, und betrat dann den großen Saal, aus dem Pater Martinus gerade geflohen war. Pascal hatte zuvor ein Mönchshabit gefunden, das er sich übergezogen hatte, damit man ihn nicht als Gefangenen erkennen konnte. Er schloss die Tür hinter sich, rief sich ins Gedächtnis, was Beatrice ihm gesagt hatte – wo der Stein sich befand –, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er ihn in den Händen hielt.
»Jetzt habe ich alles wieder beisammen.«
Bis auf seine wertvolle Uhr, klar. Doch es war zu spät, um sie zu suchen; sie hatten schon zu viel Zeit in dieser Epoche verbracht, und sie mussten schleunigst die nächste Tür finden …
In diesem Moment materialisierte sich Beatrice neben ihm und sie machten sich auf den Weg.
»Du siehst aus wie ein Mönch, eine gute Idee!«, bemerkte sie. »Konntest du den Stein finden?«
»Ja. Du hast ja ein ausreichendes Durcheinander angerichtet, echt stark.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Hoffentlich schaffen es die Gefangenen tatsächlich zu fliehen; ich würde es ihnen wünschen.«
»Ja, hoffentlich.«
Er sah sie einen Moment lang an. Trotz der ganzen Aufregung hatte Beatrice noch immer diesen sanften Gesichtsausdruck. Sie strahlte, weil sie sah, dass Pascal sich wieder erholt und Mut geschöpft hatte. Und er war frei.
»Los, gehen wir!«, sagte sie, denn die Situation, in der sie sich befanden, war wie eine Zeitbombe. »Wenn hier erst Verstärkung kommt und der Palast abgeriegelt ist, kommen wir nicht mehr heraus.«
***
Der Tross hielt an. Michelle befürchtete, dass die Skelettgestalten ihre von den Fesseln befreiten Hände entdecken würden, und sie wartete ängstlich ab. Wenn sie zu nahe an sie herankämen, würde sie vom Karren springen und versuchen, wegzulaufen; was auch immer dann mit ihr geschähe.
Doch bis auf ein paar, die hin und wieder ihre leeren Augenhöhlen auf sie richteten, schenkten ihr diese Wesen der Finsternis weiterhin keine Beachtung. Michelle war dankbar, dass sie jetzt, bei ihrem Halt, mit anderem beschäftigt waren; allein die Vorstellung, sie aus der Nähe anzusehen und womöglich die Berührung ihrer Knochen zu spüren, verursachte ihr Übelkeit.
Der Junge weinte, während er die Bewegungen ihrer Bewacher verfolgte.
Doch diese schienen – zumindest für den Augenblick – nichts Bedrohliches mit den Gefangenen auf dem Karren vorzuhaben.
Sie knieten sich an Ort und Stelle nieder und stimmten in einer unbekannten Sprache ein Lied an. Es musste ein Psalm sein, der allerdings Furcht einflößend klang.
Ungläubig betrachtete Michelle die Szene: Sie beteten! Ihre Vermutung, dass sie sich in den Händen einer satanischen Sekte befand, wurde langsam zur Gewissheit. Das geheimnisvolle Gebet, dieser düstere Gesang, den ihre Entführer zum Himmel richteten, ließ ahnen, dass die Göttlichkeit, an die sie sich wandten, nicht besonders wohlwollend war. Sie schluckte. In den Händen von jemandem zu sein, der böse Götter verehrte, bedeutete eine unkalkulierbare Bedrohung.
Ein Kind und sie als unschuldige Opfer einer makabren Religion, das passte. Sollte am Ende ihrer Reise ein Menschenopfer auf dem Plan stehen? Wollten sie sie nach Erreichen ihres Ziels etwa töten?
Ihre Entschlossenheit, gemeinsam mit dem Jungen zu fliehen, nahm konkrete Züge an. Es war gut zu wissen, dass der Tross manchmal stehen blieb. Michelle überlegte; den ersten Halt hatte sie nicht zur Flucht genutzt, er war einfach zu überraschend gekommen. Das würde ihr nicht noch einmal passieren. Nur schade, dass sie den Jungen in ihren Plan nicht einweihen konnte …
***
Pascal und Beatrice liefen weiter in die Richtung, die ihnen ihr Stein anzeigte. Er führte sie zu einem Friedhof hinter einer kleinen Kirche. Pascal warf einen Blick über die Mauer, die das Gelände umgab, und sah die stille Landschaft aus Grabsteinen und Kreuzen.
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