Totenreise
zwei Köpfe mit leeren Augenhöhlen.
Pascal machte ein entsetztes Gesicht.
»Der Albtraum hört wohl nie auf«, sagte er. »Und das alles soll Michelle aushalten? Ganz allein?«
Beatrice packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn.
»Wir sind auf dem Weg zur Hölle, was hast du erwartet?« Sie blickte wieder nach oben; die Schattenwolke sollte sie nicht überraschen. »Das ist jetzt nicht der richtige Moment, um schlappzumachen, Pascal. Glaub mir, sie wird genauso tapfer sein wie du.«
Pascal zuckte mit den Schultern. Nach allem, was er bisher erlebt hatte, die Schrecken ganz zu Beginn im Zwischenreich, die furchtbaren Ghule, die es auf ihn abgesehen hatten, die Gefahr, in der er gesteckt hatte in jenem Pestjahr, in dem er gelandet war, nicht zuletzt sein gemarterter Körper auf der Streckbank noch vor Stunden … Und jetzt diese grässlichen hautabziehenden Schatten … Er hatte plötzlich das Gefühl, dass alles, was er bis hierhin erduldet und getan hatte, umsonst gewesen war, dass sie noch immer am Anfang standen.
»Und obendrein«, stellte er düster fest, »wissen wir ja gar nicht, ob wir Michelle überhaupt finden. Es ist alles so … endlos …«
»Wie immer sind die schlimmsten Feinde die unsichtbaren«, dachte Beatrice. Sie sah, dass Pascal plötzlich den Mut verlor; und das war kaum verwunderlich. Für einen Sterblichen musste all dies hier ein gewaltiger Schock sein – und dennoch, er durfte nicht aufgeben. Und dies nicht nur, weil er zu Besonderem berufen war …
Beatrice war bewusst, dass sie etwas gegen seine Stimmung unternehmen musste; Michelles Leben hing davon ab, dass sie beide auf der letzten Etappe ihrer Mission hundertprozentig einsatzbereit waren.
»Pascal!« Sie rüttelte ihn noch einmal. »Was ist los mit dir? Was sollen diese Bemerkungen? Du bist der Wanderer!«
Pascal schüttelte müde den Kopf.
»Ich kann nicht mehr, Beatrice. Ich brauche Licht, ich brauche Schlaf, ich brauche Sicherheit. Es geht nicht mehr.«
»Aber wir sind kurz vor dem Ziel …«, versuchte sie ihn zu bestärken und blickte erneut nach oben zu der großen Krateröffnung. Um Himmels willen, wenn jetzt auch noch die schwarze Wolke käme …
Pascal, der Beatrices Wachsamkeit nicht registrierte, sah sie an.
»Welchem Ziel? Zu sterben?«
»Sag das nicht. Ich spüre, dass Michelle ganz in der Nähe ist, wirklich. Ich schwör’s dir.«
Pascal schöpfte Mut.
»Bist du sicher?«
»Ja. Ihr werdet euch in Kürze gegenüberstehen, du und … und sie.« Es fiel ihr manchmal nicht ganz leicht, Michelles Namen auszusprechen, denn es war so, dass sie … dass ihr Pascal ziemlich gut gefiel.
»Stell dir vor, was das für Michelle bedeutet, wenn sie erfährt, dass du gekommen bist, um sie zu retten.«
Pascals Gesicht hellte sich weiter auf. Beatrice war eine umherirrende Seele und sie spürte und erfühlte mehr als Lebende, viel mehr. Sollte sie tatsächlich recht haben? Sollte ihr Ziel wirklich in Reichweite sein? Das wäre tatsächlich ein großer Antrieb. Er wünschte sich so sehr, Michelle zu sehen …
»Nach allem, was wir durchgemacht haben, um hierherzukommen«, fügte Beatrice hinzu, »kannst du jetzt nicht aufgeben. Bitte, du musst deine Kräfte bündeln, du brauchst deinen alten Kampfgeist zurück.«
Pascal zog das Schwert aus der Scheide, damit die Wärme dieser Waffe, die ihm mehrfach das Leben gerettet hatte, seinen Körper durchströmte. Er dachte an seine Eltern und Freunde und langsam erholte er sich wieder, kam wieder zu sich. Er lächelte sogar.
Beatrice umarmte ihn.
»Ich klettere wieder hinauf«, teilte sie ihm mit. »Wir sind schon eine ganze Weile hier unten. Ich schau mal nach, ob die Schattenwolke verschwunden ist.«
Pascal schluckte.
»Pass auf dich auf.«
Beatrice küsste ihn auf die Wange.
»Mach ich.«
51
SIE HATTEN SIE beinahe gewaltsam zwingen müssen, den Dachboden zu verlassen. Jules, der noch immer bewusstlos war, bekam nichts davon mit, aber Dominique und Daphne hatten versucht, sich zu widersetzen; sie wollten nicht, dass die Dunkle Pforte ohne Aufsicht blieb, bevor Pascal nicht wieder zurück war. Da sie der Kommissarin gegenüber jedoch keinen vernünftigen Grund für ihr Bleiben hatten nennen können, mussten sie schließlich klein beigeben. Dominique hatte nach wie vor heftige Schmerzen im Bereich seiner Rippen, er musste behandelt werden.
Marguerite verstand absolut nicht, warum die beiden nur widerstrebend vom Dachboden herabstiegen – immerhin waren sie nur
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