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Totenreise

Totenreise

Titel: Totenreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Lozano Garbala
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»Wenn er bis dahin nicht zurück ist, machen wir uns auf die Suche nach ihm. Und jetzt entspann dich, du musst gleich dein Kostüm vorführen.«
    ***
    Henri Delaveau sah, dass er sich im Elternsprechzimmer befand. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, um den Schweiß abzuwischen, der ihm in die Augen tropfte. Hemd und Jacke waren ebenfalls schweißgetränkt. Ohne sich von der Tür wegzubewegen, bekam er einen Stuhl zu fassen, klemmte ihn unter die Klinke, lief dann rasch zu dem schweren Schreibtisch und zog ihn unter Aufbietung aller Kräfte vor die Tür, blockierte den Eingang. Dann versuchte er herauszufinden, was draußen vor sich ging. Kein Geräusch drang zu ihm. War das Monster etwa verschwunden? Er bezweifelte es, und bestürzt und noch immer voller Angst wurde ihm klar, dass er einer für Vampirgeschichten typischen Verwandlung beigewohnt hatte, der Verwandlung eines solch blutrünstigen Wesens in einen Wolf. Sein Verstand weigerte sich, das zu glauben.
    Er nahm sein Handy und rief die Polizei an. Damit man ihn nicht für einen Spinner hielt, sagte er lediglich, dass er in der Schule von ein paar bewaffneten Einbrechern angegriffen worden sei und nicht wüsste, wie lange er sich noch verstecken könnte. Er nannte die Adresse und schaltete das Handy aus.
    Jetzt musste er einfach durchhalten, bis die Polizei kam. Wenn sie lange bräuchte, würde er durchdrehen.
    Ganz vorsichtig, damit kein Schritt ihn verriet, löste er sich von der Tür. Nachdem er ein paar Sekunden gewartet und festgestellt hatte, dass sich draußen nichts rührte, durchsuchte er den Raum nach einem Gegenstand, mit dem er sich verteidigen konnte. Es gab kein Fenster, nur einen großen Spiegel genau gegenüber der Tür, vor den er trat: Er sah aus wie ein leibhaftiges Gespenst. Wieder bemerkte er diesen unangenehmen Geruch. Dann geschah es: Der Schreibtisch, mit dem er eben den Eingang verrammelt hatte, flog zur Seite, der Türflügel wurde mit brachialer Gewalt aufgestoßen und knallte gegen die Wand. Putz fiel herab, und in dem Spiegel wurde der Gang draußen sichtbar. Doch er war leer. Delaveau wandte ruckartig den Blick ab und drehte sich um. Und nun sah er es: Jener zerlumpte Fremde stand in der Tür. Und aus seinem bleichen, ausgemergelten Gesicht starrten ihn zwei gelbe Augen an. Wie ein Vampir, musste Delaveau noch einmal entsetzt feststellen und konnte es noch immer nicht glauben. Woher war diese teuflische Gestalt nur gekommen?
    Ihm blieb keine Zeit mehr: Ein gewaltiger Satz des Vampirs, und der Lehrer spürte den durchdringenden Schmerz, als sich die Fangzähne in seinen Hals bohrten. Er wurde augenblicklich schwach und bewegungslos. Kein Muskel regte sich, während die Bestie das Blut aus ihm saugte.
    In der Ferne ertönten Polizeisirenen. Sie kamen rasch näher, aber es würde zu spät sein.
    ***
    Pascal erreichte rechtzeitig den Leuchtpfad und hörte hinter sich das Schnappen von Zähnen. Dann, als er auf dem schimmernden Boden lag, kniff er die Augen zu und wartete darauf, dass ihn die Wesen, die ihn verfolgten, angreifen und verschlingen würden.
    Doch nichts passierte. Während endlos langer Sekunden erwartete er seinen Tod, aber das Fauchen der Kreaturen kam nicht näher. Pascal wagte es, die Augen zu öffnen, und schöpfte ein klein wenig Hoffnung. Er war noch immer am Leben und hatte gerade eine wichtige Lektion in dieser fremden Welt gelernt: Solange er sich auf dem Leuchtpfad aufhielt, war er offensichtlich vor den Gefahren der Dunkelheit sicher.
    Als er sich von seinem Schreck erholt hatte und sich erhob, fiel sein Blick auf etwas, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Hinter einem kleinen Hügel – in dem sich die Tür zu dem Gang befand, durch den er gekommen war – erstreckte sich ein großer See. Sein schwarzes, stilles, dunstverhangenes Wasser ging in den dunklen Horizont über.
    Pascal eilte über den Pfad und trat ans Ufer. Die dunklen Fluten hatte eine ölige Konsistenz und verströmten einen widerlichen Gestank.
    Er traute sich nicht, seine Hand in die modrige Flüssigkeit zu tauchen, doch er beugte sich darüber, um festzustellen, was für eine seltsame Materie das war. Seine Spiegelung auf der Oberfläche, schwach zu erkennen im Licht des Pfades hier am Ufer, wurde auf einmal deutlicher und verwandelte sich in unbekannte Gesichter, die zu stummen Leidensmienen verzerrt waren. Aus weit aufgerissenen Mündern riefen die Gestalten etwas, doch Pascal erreichten nur ein paar kreisförmige Wellen, und dicke

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