Totenreise
erlebt hatte, konnte er kaum mehr zwischen Wirklichkeit und Traum unterscheiden. In dieser Nacht schien einfach alles möglich zu sein, hier in dieser Welt, die mit seiner irgendwie verbunden war, einer Welt, die ihn aus irgendeinem Grund angelockt und aus seinem bisher ganz normalen Leben gerissen hatte.
Nun war es ganz dicht hinter ihm, das Wispern.
»Er ist am Leben!«
Pascal wirbelte zu der Stimme herum. Vor ihm stand ein Mann in einer seltsamen Uniform.
7
DIE KRIMINALBEAMTIN Marguerite Betancourt betrachtete den Leichnam, über den ein Blitzlichtgewitter ging. Ihr Kollege Marcel Laville, ein Gerichtsmediziner, machte Aufnahmen von dem Toten und dem Ort des Verbrechens, während sie geistesabwesend die Amethystkette an ihrem Hals streichelte. Den ersten Verdacht, dass es sich um einen versuchten Diebstahl mit Todesfolge handelte, hatte sie bereits von vornherein ausgeschlossen. Das hier sah anders aus. Besser gesagt, viel schlimmer: dieser leblose Körper, der wie eine verrenkte Marionette auf dem Boden lag, Hals und Gesicht blau verfärbt, und erst der angstverzerrte Ausdruck auf dem Gesicht …
»Männlich, blond, fünfunddreißig Jahre alt. Sag mir mehr, Marcel«, bat sie den Mediziner, einen großen, breitschultrigen Mann von vierzig mit graumeliertem Haar, der sich jetzt über den Toten gebeugt hatte. »Beweise mir, dass es sich hier um mehr handelt als ein konventionelles Verbrechen.«
»Dafür brauchen wir keine Laboruntersuchungen«, erwiderte er. »Das ist in der Tat ein ungewöhnliches Verbrechen. Man hat dem Burschen das gesamte Blut abgezapft. Er könnte das Opfer irgendeines Ritualmords sein.«
Marguerite nickte ohne große Überzeugung.
»Das wäre sicherlich der reizvollste Versuch einer Erklärung«, meinte sie und sah sich um. »Doch es gibt weder irgendwelche Graffiti noch mysteriöse Zeichnungen, auch keine anderen ungewöhnlichen Objekte oder Schmuck. Nein«, sie schüttelte den Kopf, »nach einer Zeremonie sieht das hier nicht aus. Oder sie hatten es eilig, haben alles wieder zusammengerafft und gemacht, dass sie fortkamen.«
»Vielleicht wurde das Ritual an einem anderen Ort vorgenommen, und danach hat man den Toten hierhergebracht«, mutmaßte Marcel, der sich inzwischen aufgerichtet hatte und sie mit seinen großen braunen Augen ansah.
»Nein«, widersprach die Kriminalbeamtin erneut. »Der Mann hat vor seinem Tod über Handy die Polizei verständigt, und da war er bereits hier im Gebäude. Das passt nicht. Doch es gibt eine andere Sache, die mich noch mehr beunruhigt.«
Der Gerichtsmediziner betrachtete die Fingernägel des Opfers, bevor er etwas sagte: »Ich höre dir zu, Frau Kommissarin.«
»Du bist der Wissenschaftler. Wenn man berücksichtigt, wie schnell wir nach dem Anruf hier an Ort und Stelle waren – wie verliert ein menschlicher Körper in so kurzer Zeit sein gesamtes Blut?«
»Gute Frage. Ich finde nicht einmal Verletzungen, bis auf ein paar leichte Kratzer am Hals.« Er überlegte. »Doch für mich schließt sich eine weitere Frage an: Wie macht man das, ohne einen einzigen Tropfen zu vergießen? Auf dem Boden sind keine Flecken. Ritualmord oder nicht – das ist das Erstaunlichste, was ich seit Jahren gesehen habe, Marguerite.«
»Na großartig«, murmelte sie verdrießlich. »Natürlich muss ausgerechnet ich heute Nachtdienst haben.«
***
Der Mann war ungefähr mittleren Alters und er stand in militärischer Haltung vor Pascal, zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn und wiederholte:
»Was willst du hier? Du bist am Leben!«
»Nun … ja, ich bin am Leben«, sagte Pascal zögernd und begriff nicht, was daran verkehrt sein sollte. »Wieso sagen Sie das?«
Der andere runzelte entrüstet die Stirn.
»Was heißt hier … Wieso sagen Sie das? Du sprichst mit Capitaine Armand Runné, also etwas mehr Respekt, bitte.«
Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Nachhall, was Pascal überraschte: Jedes Wort, das er sprach, erklang wieder und wieder, wie ein Echo, bis es in der Dunkelheit verhallte.
Pascal bat eilig um Entschuldigung. Er konnte es sich nicht leisten, den einzigen – hoffentlich – normalen Menschen zu verärgern, dem er auf dem ganzen Weg bisher begegnet war. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin nur nervös und …«
Nun erklang das Echo auch bei ihm. Pascal seufzte, denn es zwang ihn, möglichst langsam zu sprechen, wenn sich der Nachhall der Worte nicht überlagern sollte. Aber er musste loswerden, was ihm alles zugestoßen
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