Totenreise
war in dieser Nacht. Also nannte er seinen Namen und schilderte in groben Zügen die Ereignisse, seit er in die Truhe auf Jules’ Dachboden geklettert war. Und während er redete, fühlte er sich besser.
»Ich weiß noch immer nicht, wo ich bin«, gestand er schließlich. »Na gut, das hier ist der Friedhof von Montparnasse. Aber ich kapiere es nicht … Denn wenn das stimmt – dann ist der Rest von Paris verschwunden?«
Der andere lächelte.
»Paris existiert noch immer, und so, wie du es kennst. Dies hier ist nur … ein Ausschnitt.« Und beeindruckt fügte er hinzu: »Du hast die Pforte durchschritten. Es ist also wieder geschehen.«
Pascal wusste nicht, was er sagen sollte, und er verstand auch die letzten Worte nicht. Der Capitaine kam noch einen Schritt auf ihn zu und stand nun unmittelbar vor ihm. Er streckte langsam die Hand aus und berührte den Jungen vorsichtig an der Wange. Pascal zuckte zurück. Die Finger des Mannes waren eiskalt.
»Ihre Hand ist ja ganz kalt!«, beschwerte er sich, während er sich die Wange rieb.
Einen langen Augenblick schwieg der Capitaine verblüfft. »Jetzt muss ich mich entschuldigen, Pascal«, sagte er dann schließlich. »Es ist so lange her, dass ich das mit eurer Temperatur ganz vergessen hatte …«
Pascal begriff nicht recht: »Eure Temperatur? Was ist so lange her?«
Der andere betrachtete ihn eingehend, während er abschätzte, welche Wirkung seine Worte haben würden: »Es ist lange her, dass ich einen Lebenden berührt habe.«
Pascal zuckte zusammen angesichts dessen, was das heißen musste, doch er weigerte sich, diesen Satz und seine Bedeutung zu akzeptieren, weil es ihn noch weiter von seiner Welt entfernte und weil es ihm Angst machte.
»Was meinen Sie damit?«, fragte er mit dünner Stimme und wich zurück.
»Du musst keine Angst haben.« Der Capitaine hatte längst seine Strenge verloren. »Die Gefahr ist dort draußen, woher du gekommen bist, nicht hier. Es ist ein Wunder, dass du es bis zu uns, auf den Friedhof von Montparnasse, geschafft hast, ohne dass dir etwas zugestoßen ist.«
Wie mechanisch wandte Pascal sich um und ging langsam auf den Friedhofsausgang zu. Er wollte weg von diesem Ort, von diesem … Mann; er wollte zurück in sein bisheriges Leben, und doch wollte er irgendwie auch wissen, was es mit diesem Capitaine auf sich hatte, der so merkwürdige … Sachen von sich gab.
»Sagen Sie mir, wer Sie sind und was das alles soll!«, rief er also, vielleicht in der Hoffnung, dass sich nicht bewahrheiten würde, was er befürchtete, in der Hoffnung, nicht allein zu sein, dass da jemand war, der ihm so etwas wie ein Schutz sein konnte.
»Ich bin Capitaine Armand Runné«, wiederholte der Mann, »und ich bin im Jahre 1899 im Krieg gefallen. Ich bin ganz hier in der Nähe begraben, in der nächsten Reihe links.«
Pascal beschleunigte seinen Schritt.
Auch wenn das äußerst ungewöhnlich klang, es schien zumindest zu erklären, wieso der Leutnant eine so merkwürdig alte Uniform trug, wie aus dem Film.
»Geh nicht«, bat der Soldat neben ihm. »Du hast allein dort draußen keine Möglichkeit zu überleben, das ist nicht deine Welt …«
»Was mache ich dann hier?«, platzte Pascal heraus und kämpfte mit den Tränen. »Ich will zurück!«
»Das kannst du auch, wirklich.« Runné blieb an seiner Seite. »Vertrau mir, es ist verständlich, dass du verängstigt bist. Aber hier bist du nicht in Gefahr.«
»Aber …« Der Junge warf einen Seitenblick auf den Mann und schüttelte den Kopf. »Es kann nicht sein, dass Sie tot sind, es kann nicht sein …«
»Wie die anderen Dinge, die du auf dem Weg hierher gesehen hast, stimmt’s?« Der Capitaine blieb stehen. Er fasste nach Pascals Schulter, hielt ihn mit festem Griff und zwang den Jungen zu stoppen. »Ich bitte dich, mir den Puls zu messen.«
Er streckte Pascal nun seinen Arm entgegen, doch der schüttelte den Kopf. Der Capitaine versuchte es mit einer anderen Strategie: »Darf ich dir etwas zeigen, das dich überzeugen wird?«
Pascal wusste, dass er keine Wahl hatte: Entweder dies hier oder auf dem Pfad zurück in die immerwährende Dunkelheit gehen, mit all den Gefahren, die da womöglich auf ihn lauerten … Im Augenblick hatte er nicht den Mut für die zweite Variante, also nickte er und folgte dem vermeintlichen Toten. Bald erreichten sie ein Grab, auf dem eine Art Obelisk aus grünlichem, dunkel angelaufenem Metall stand, darauf ein großes Medaillon mit einem eingravierten Bildnis,
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