Totenreise
zu wandeln, die bis vor Kurzem noch von Adrianas lautem Lachen erfüllt gewesen waren. Alles war leer und sinnlos für ihn, und sein gebrochenes Herz fand keinen Trost.
Adriana, die vom Totenreich aus die Verzweiflung des Geliebten sah und selbst nicht weniger verzweifelt war, bat schließlich voller Schmerz darum, dass man ihren Mann Fabrizio von seiner Qual erlöste, und sie tat es wieder und wieder, und sie tat es mit solcher Inbrunst, dass man ihr Gehör schenkte.«
Gebannt hing Pascal an Lafayettes Lippen. Auch die anderen Gestalten, die im blassen Licht um sie her standen, lauschten aufmerksam.
»Fabrizio verfügte über eine prächtige Truhe in seinen Gemächern«, fuhr Lafayette fort, »ein Hochzeitsgeschenk des großen Dogen von Venedig. Dort bewahrte er einige seiner Kostbarkeiten auf, wertvolle Schätze aus aller Herren Länder. Diese Truhe nun wurde im Reich der Toten dazu ausersehen, für Fabrizio zum Tor zu werden, um zu seiner Geliebten zu gelangen.«
»Und«, Pascal wollte trotz seiner Verwirrung die ganze Geschichte hören, »waren die beiden am Ende vereint und glücklich?«
Lafayette lächelte.
»Niemand weiß es. Aber«, fügte er hinzu, »darum geht es auch nicht.«
Pascal versuchte, das Gehörte zu verdauen.
»Mit dieser Geschichte willst du mir also sagen …«
»Seit der Reise des Baron della Bellanza«, bestätigte Lafayette und nickte, »gibt es in der Welt der Lebenden dieses Tor, das zum Reich der Toten führt. Ein in einer alten Truhe verborgener Zugang, der lange Zeit ungenutzt blieb und den du offensichtlich entdeckt hast: die Dunkle Pforte.«
Pascal schluckte. Ein paar Augenblicke schwieg er.
»Aber eines verstehe ich nicht«, sagte er dann. »Bestimmt ist irgendein Mitglied der Familie Marceaux, wann auch immer in den zurückliegenden Jahren, schon einmal in die große Truhe gestiegen, so wie ich heute, um etwas zu suchen. Also müsste den Marceaux bekannt sein, was damit passiert. Aber das ist nicht so, das kann ich versichern. Sie haben keine Ahnung.«
»Die Truhe ist das Tor, aber das heißt nicht, dass es immer offen steht«, erklärte Lafayette. »Der Schritt von einer Welt zur anderen ist zu gefährlich. Der Zugang ist nur alle hundert Jahre möglich, am Jahrestag der Reise des Barons. Und selbst dann steht sie auch nur für eine Minute nach der Zeitmessung der Lebenden offen, und zwar um Mitternacht, wenn der Tag der Toten beginnt, Allerheiligen. Der erste November.«
Pascal rechnete kurz nach und erstarrte. Natürlich, dieser Jahrestag begann genau um zwölf Uhr nachts an Halloween. Er hatte sich tatsächlich in der ersten unheilvollen Minute des neuen Tages in der Truhe befunden.
»Heute Nacht sind es weitere hundert Jahre, die seither vergangen sind«, verkündete der Capitaine. »Und du … Es war vorherbestimmt: Du solltest genau an diesem Ort sein, Pascal.«
»Genau dort hätte ich nicht sein sollen«, widersprach er. »Oh Mann …«
»Schicksal oder Zufall? Das wirst du nie erfahren.« Lafayette sprach in einem geheimnisvollen Tonfall. »Seitdem sie existiert, haben nur sechs Menschen diese Schwelle übertreten, du eingeschlossen. Lange Zeit war der Ort, an dem die Dunkle Pforte sich befand, in Vergessenheit geraten; bis sie in den Halloween-Nächten von 1808 und 1908 wieder benutzt wurde. Aber mach dir keine Sorgen. Die Pforte wird für dich offen stehen, für deine Rückkehr.«
Der junge Mann hatte Pascals Gedanken erraten.
»Ich kann also gehen, wann ich möchte?«
»Natürlich. Das ist das Privileg des Auserwählten. Jedenfalls, solange du den Zeitraum deines Aufenthalts nicht überschreitest. Sieben Tage.«
»Und was passiert, wenn man die Zeit verpasst?«, wagte er zu fragen.
Lafayette zögerte nicht mit der Antwort: »Dann bleibst du für immer in dieser Welt. Aber keine Angst, man muss nur Obacht geben. Der Baron della Bellanza wollte schließlich nicht in seine Welt zurück. Doch seit damals konnten alle, die durch die Dunkle Pforte gingen, über diese Macht verfügen: Von jetzt an kannst du kommen und gehen, wann du willst, immer durch die Truhe auf dem Dachboden der Marceaux. Niemand sonst hat diese Möglichkeit.«
Sie konnten über diese Macht verfügen … Pascal dachte über die Worte nach. Eine seltsame Formulierung, denn sie bedeutete nicht, dass alle Reisenden davon Gebrauch gemacht hatten. Gab es wohl einen, der in der Welt der Toten hängen geblieben war, außer diesem Baron? Oder der in der Welt der Lebenden nichts von seiner
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