Totenreise
ist.«
Marguerite richtete sich auf und blickte ihr Gegenüber scharf an.
»Los, raus damit. Wir sind mit der Untersuchung noch kein Stück vorangekommen.«
Es schien den Arzt Überwindung zu kosten, und er starrte einen Moment lang auf seine Instrumente.
»Was ist los, Marcel?«
Der Gerichtsmediziner seufzte resigniert: »Hast du dich nicht gefragt, wie sie ihm das Blut abgezapft haben?«
Die Ermittlerin zuckte mit den Schultern.
»Das ist deine Sache. Am Tatort haben wir jedenfalls keine Verletzungen entdeckt.«
Marcel nickte.
»Wie schon gesagt, es gibt keine. Das Problem ist nur, dass man einem Menschen nicht das gesamte Blut abzapfen kann, ohne ihm eine Wunde zuzufügen. Wissenschaftlich unmöglich. Als Einziges käme eine innere Blutung infrage, die in eine natürliche Körperöffnung kanalisiert wäre, doch das ist, wie gesagt, nicht der Fall. Keine inneren Verletzungen.«
Marguerite wurde langsam ungeduldig. »Rede nicht um den heißen Brei herum, Marcel. Jede Minute zählt, und die Presse rückt uns auf die Pelle. Das ist ein echter Leckerbissen für diese Hyänen, und etwas müssen wir ihnen sagen.«
»Zwei winzige Verletzungen am Hals habe ich entdeckt«, gestand der Gerichtsmediziner, ohne sie anzuschauen. »Direkt über der Halsschlagader.«
»Das ist es!«, freute sich Marguerite. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? So könnte man ihm das Blut abgezapft haben, oder?«
»Schon möglich. Ich habe sogar an der Ader selbst eine Verletzung entdeckt. Doch es gibt ein Problem: der Zustand dieser Verletzung, ihre Vernarbung. Sie sieht aus, als wäre sie mindestens eine Woche alt.«
»Wie bitte?«
Der Gerichtsmediziner zuckte ratlos mit den Schultern. »Es ist unmöglich, dass die Wunden in dem Zeitraum zwischen dem Verbluten des Mannes und seiner Ankunft hier vernarbt sind, Marguerite. Anders gesagt: Die einzigen Wunden, die dieser Körper aufweist, müssen ihm bereits vor einer Woche zugefügt worden sein.«
Die Kommissarin schnaubte und blies dabei ihre mächtigen Wangen auf. »Ist es nicht möglich, dass sie irgendeinen Beschleuniger benutzt haben, damit die Wunden schneller verheilen?«
Marcel schüttelte den Kopf. »Das ist ein Vorgang, den man nicht so leicht beschleunigen kann.«
»Willst du damit letztlich sagen, dass du noch immer nicht weißt, wieso in dieser Leiche nicht mehr ein einziger Tropfen Blut ist?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er hatte eine Vorstellung davon, wie sich die Sache abgespielt hatte, doch war es eine so unwissenschaftliche Hypothese, dass er sie lieber für sich behielt. Sie zur Diskussion zu stellen, hätte außerdem bedeutet, ein Geheimnis zu verraten, das er seit vielen Jahren wie seinen Augapfel hütete. Dazu war er nicht bereit.
»Wenn du möchtest, kann ich dir bei der Ausarbeitung eines Berichts helfen, um die Journalisten abzulenken«, bot sich Marcel an.
»Die Journalisten sind das eine«, sagte Marguerite. »Aber ich will vor allem dem auf die Spur kommen, der das getan hat, und du bist dabei überhaupt keine Hilfe. Mein Gott, du bist fast zwanzig Jahre Gerichtsmediziner!«
»Was soll ich dir sagen? So etwas habe ich noch nie gesehen, das kannst du mir glauben. Ich werde ein paar Kollegen anrufen und ihnen den Fall schildern. Das ist alles, was ich im Moment tun kann.«
»Einverstanden. Sag Bescheid, sobald du etwas weißt; ich bin rund um die Uhr auf dem Handy erreichbar, bis wir den Fall aufgeklärt haben. Auf Wiedersehen.«
Die Kommissarin drehte sich um und verschwand mit großen Schritten aus dem Saal. In der Luft blieb ein Hauch ihres schweren Parfüms zurück.
Marcel beugte sich über den Hals des Leichnams und suchte die merkwürdigen Narben. Da waren sie: zwei Punkte von einem Millimeter Durchmesser, umgeben von einem leichten Bluterguss. Eine dunkle Ahnung befiel ihn.
Und dann noch das Verschwinden von zwei Jugendlichen in derselben Nacht, in der Delaveau ermordet worden war.
War es ein Zufall, dass beide in die Schule gingen, an der der Lehrer unterrichtet hatte?
Hoffentlich tauchten sie bald wieder auf, und zwar lebend.
14
DOMINIQUE UND MARIE passierten eine schmale Straße, die von alten Gebäuden gesäumt war. Wie Dominique und Pascal wohnte auch Marie nicht an einer der breiten Pariser Alleen, von denen es so viele gab, zum Beispiel den nahe gelegenen Boulevard Haussmann, der einem keine Angst einflößte, wenn die Dämmerung hereinbrach.
Sie waren ganz allein unterwegs,
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