Totenreise
Montagnachmittag auszuprobieren, war Dominique auf dem Weg zur Schule. Er wollte sich allein ins Abenteuer stürzen, der Welt beweisen, dass er ein Genie war.
Er entdeckte bald Marie, die sich im Foyer aufhielt. Sie stand vor der Pinnwand, wo der Schulkalender hing. Sie kannten sich nicht näher, doch er hatte bereits ein Auge auf sie geworfen und sich ausreichend informiert, um sie auf seiner Strategietabelle einordnen zu können: Sie gehörte zur Kategorie H, die Ängstliche.
Dominique überflog das Profil des Jungen, das er benutzen musste, um seine Eroberung zu starten: Typ I, der Anführer, hatte eine gute Bewertung, doch die meisten Punkte verzeichnete Typ XI, Der Mutige – der Beschützer. Logisch. Aber wie sollte er einem Mädchen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, wenn er in einem Rollstuhl saß? Irgendwie musste er es versuchen.
»Hallo«, sagte Dominique, als er neben ihr zum Stehen kam. »Du bist Marie, stimmt’s?«
Überrascht drehte sie sich um.
»Hallo. Kenne ich dich?«
»Wir haben einen gemeinsamen Freund«, log er. »Ich heiße Dominique und gehe in die Vierte.«
»Okay. Was willst du?«
Sie küssten sich auf die Wangen.
»Nichts weiter, ich bin zufällig hier«, erwiderte Dominique wie nebenbei und ging dann zum Angriff über.
»Das mit Delaveau«, sagte er, »ist ganz schön heftig. Man hat ihm das Blut abgesaugt!«
Marie, die sich bereits wieder der Pinnwand zugewandt hatte, blickte ihn erneut an.
»Stimmt das also?«, fragte sie mit erschrockenem Gesicht. »Ich dachte, das wäre nur so ein Gerücht …«
Dominique schüttelte ernst den Kopf.
»Nein, es stimmt. Ein Freund von mir ist bei der Polizei. Er hat es bestätigt.«
Noch eine Lüge. Doch einen Freund bei der Polizei zu haben, hatte etwas Beruhigendes.
»Echt krass …«, sie hatte die Hand vor den Mund geschlagen. »Warum sollte das jemand tun? Der arme Kerl …«
Dominique fand, dass Marie noch hübscher aussah, wenn sie ein besorgtes Gesicht machte.
»Das ist noch nicht einmal das Schlimmste«, fuhr er fort. »Das Schlimmste ist, dass Mörder an den Ort des Verbrechens zurückkommen.« Er sah sich um. »Vielleicht ist er ja schon da. Hast du jemanden gesehen, der dir unbekannt vorkam?«
Maries Gesichtsausdruck wurde noch ängstlicher. Sie fixierte zwei junge Männer, vermutlich Handwerker, die gerade durchs Foyer liefen, mit ihren schönen, weit aufgerissenen Augen.
»Nein … ich habe nicht darauf geachtet …«
Dominique fand, es lief gut, doch er musste ihr noch mehr Angst einjagen: »Mein Freund sagt, es handelt sich um einen Ritualmord. Deshalb hat man ihn wie ein Schwein ausbluten lassen.«
»Ritualmord?«
»Ja, so etwas wie eine Zeremonie mit Menschenopfern. Vielleicht haben sie hier ja eine schwarze Messe gefeiert, und die Mörder sind Satansanhänger.«
Maries schockiertes Gesicht war das Zeichen für Dominique, Nägel mit Köpfen zu machen.
»Es wird langsam dunkel. Bist du allein hier?«
Sie nickte stumm.
»Das hätte ich nicht sagen sollen, wie dumm von mir. Aber mach dir keine Sorgen; ich wollte gerade gehen, also kann ich dich nach Hause begleiten.« Wie zu erwarten war, zögerte sie, also ergänzte Dominique das Angebot mit einer weiteren falschen Information. »Diese Mörder halten nach Leuten Ausschau, die allein unterwegs sind, das ist nicht so riskant für sie. Zusammen sind wir weniger interessant für diese Bestien.«
Sie zögerte einen Moment, nickte aber dann. Dominique setzte ein vertrauenerweckendes Lächeln auf.
»Ganz ruhig, es wird nichts passieren. Ich versprech’s dir.«
Er sah sich in seiner Einschätzung bestätigt; es handelte sich tatsächlich um ein H-Mädchen.
***
»Er ist an Blutverlust gestorben, es gibt keine Anzeichen von Misshandlung«, stellte der Gerichtsmediziner fest und ging um den Obduktionstisch herum, auf dem der Leichnam lag. »Er hat keinerlei Verletzung am Körper: Organe, Muskeln und Knochen sind intakt, und es gibt auch keine inneren Verletzungen. Der Schädel war unversehrt. Nicht einmal blaue Flecken sind auf der Haut zu erkennen, also hat man ihn weder geschlagen noch gefesselt.«
Marguerite, die einen weißen Kittel trug, trat an den Tisch und beugte sich über den Toten.
»Was willst du damit sagen?«, stieß sie nervös hervor. »Dass er sich freiwillig das Blut abzapfen ließ? Ein großzügiger Spender vielleicht? Ich hoffe, du hast mich nicht deswegen rufen lassen.«
»Nein, natürlich nicht. Aber etwas gibt es, das merkwürdig
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