Totenreise
den Weg zur Tür.
Als Marcel Laville gegangen war, legte Daphne ihre Rolle als trauernde Großmutter ab. Ohne zu ahnen, dass der Gerichtsmediziner den Vorgang über eine Kamera beobachtete, überprüfte sie ein paar Dinge: »Wie spät ist es? Da wir in einem Keller sind, können wir nicht genau sagen, wie lange wir noch Tageslicht haben.«
Dominique sah auf die Uhr. »Viel Zeit haben wir nicht.«
»Dann sollten wir uns beeilen.«
Daphne öffnete ihre große Tasche und nahm zwei Holzpflöcke, einen Holzhammer, ein riesiges Messer, Knoblauch und eine kleine Flasche Benzin heraus. »Bist du so weit?«, fragte sie Dominique, der tief ein-und ausatmete, um sich zu beruhigen. Das, was ihnen jetzt bevorstand, hätte er nicht gebraucht, um zu beweisen, dass er fest zu seinem Versprechen stand, Michelle und Pascal beizustehen. Aber was sollte es … Er musste diese Aufgabe erfüllen.
»Ja, ja, ich bin so weit«, antwortete er also und gab seiner Stimme Festigkeit. »Los geht’s.«
Zuerst nahm Daphne den Körper des Mädchens genau unter die Lupe. Auf Anhieb entdeckte sie, in Höhe der Halsschlagader, zwei winzige Narben.
»Ja, Melanie wurde gebissen. Sie ist jetzt ein Vampir und sie kann jederzeit erwachen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie gestern schon versucht hätte, von hier zu verschwinden. Doch sicher war sie noch zu schwach. Sie braucht eine Dosis Blut, um sich zu stärken.«
Dominique glaubte vor Angst in Ohnmacht zu fallen. Demnächst würde das tote Mädchen die Augen öffnen. Und sie waren hier, in diesem Saal. Waren sie verrückt?
Daphne legte ihr Werkzeug auf eine Ablage und ging zur Tür, um sie zu verriegeln. »Wir wollen nicht gestört werden, stimmt’s?« Sie zwinkerte Dominique zu. »Such das Fach von Raoul und öffne es.«
Irritiert von ihrem lockeren Tonfall, rollte Dominique an der Metallmauer entlang, es klang, als hätte sie ihn um ein Taschentuch gebeten. Wie ging das, in einer so gruseligen Umgebung?
Er entdeckte Raouls Namen auf einem der Schilder in halber Höhe und zog die Bahre heraus.
»Öffne jetzt den Reißverschluss und schau dir die Verletzungen am Hals an«, sagte Daphne. Langsam und mit zitternden Fingern befolgte er ihre Anweisung.
»Ja, Daphne. Er ist auch gebissen worden.«
»In Ordnung. Am besten, wir verlieren keine Zeit und rammen ihnen den Pflock gleichzeitig ins Herz. Es könnte sein, dass die Zeit für ihr Erwachen unmittelbar bevorsteht. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
Dominique stockte der Atem. Sein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe. »Ich dachte, das würdest du erledigen«, gestand er.
»Das hatte ich auch vor, aber ich kann nicht zwei Pflöcke zugleich hineinstoßen, verstehst du?«
»Klar.«
Daphne trat zu ihm und legte ihm eine Knoblauchkette um den Hals. Dominique trug bereits eine Goldkette mit einem Kruzifix.
»Du darfst auf keinen Fall zögern«, mahnte ihn Daphne. »Egal was du hörst oder siehst, du treibst ihm den Pflock ins Herz. Hör nicht auf, bevor du es nicht geschafft hast. Um den Rest kümmre ich mich.«
Dominique schluckte schwer. Er nickte und schaute auf die Gegenstände in seinen Händen, ein schwerer Hammer und ein Holzpflock.
»Auch wenn dir kein Herzschlag hilft, versuch das Herz genau zu treffen«, flüstere ihm Daphne zu, die sich nicht weit von ihm in derselben Haltung über Melanie gebeugt hatte. »Und setz die Spitze des Pflocks direkt darüber an.«
Von draußen war ein Donnern zu hören. Ein Gewitter zog auf.
»Der Herr ist mein Hirte«, begann Dominique mit zitternder Stimme zu beten, »mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.«
Er betete weiter, bis er zu einer Zeile kam, die ihm besonders mutmachend erschien. »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürcht ich kein Unglück …«
27
TATSÄCHLICH wurde Pascal auf dem Friedhof schon erwartet. Zahlreiche Tote hatten sich neben dem Haupteingang versammelt.
»Wie ich sehe, kennst du Beatrice bereits«, stellte Lafayette anerkennend fest. »Sie ist nett, nicht wahr? Ein gutes Mädchen. Sie kommt uns regelmäßig besuchen.«
»Wie könnte ich euch vergessen?«, erwiderte sie und verteilte Küsschen an Freunde und Bekannte.
»Wie sieht’s aus in deiner Welt, Pascal?«, wolle Lafayette besorgt wissen. »Wir ahnen, dass du keine guten Nachrichten bringst.«
Pascales Gesichtsausdruck wurde ernst. »Schlecht. Der Vampir hat ein lebendes Mädchen in die Finsternis entführt.«
Die Anwesenden
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