Totenruhe - Bleikammer - Phantom
niemandem etwas zu Leide getan.“
„Wirklich? Hat er auch einen Namen? Und eine Geschichte?“
„Es ist Lorenz von Adlerbrunn, der Baron, der einst hier wohnte. Er kam vor sieben Jahren auf unglückliche Weise zu Tode und findet nun nicht die nötige Bettschwere, um ruhig in seinem Grab zu schlafen. Jeder von uns hat ihn schon einmal gesehen, nicht wahr?“
Bis auf Charmaine nickten alle.
„Sie nicht, Frau Morice?“, hakte Edeltraud nach, die in solchen Dingen sehr hartnäckig sein konnte.
Doch die Französin blieb stumm. Ein spukender Baron , fasste Edeltraud innerlich zusammen, und eine geheimnisvolle Frau, die irgendetwas vor mir verbirgt. Während des Essens hatte sie mehr als einmal zu Charmaine hinübergespäht, denn sie erwartete unwillkürlich, dass jeden Moment ein Käfer unter ihrem Kleid oder aus ihren Haaren heraus auftauchte und auf ihren Teller fiel. Das geschah dankenswerterweise nicht. Trotzdem blieb ihr die Frau suspekt.
Eigentlich war ihr von allen diesen Leuten nur Samuel Rosenberg sympathisch, dieser zurückhaltende junge Mann, dem alles ein wenig peinlich zu sein schien, was Konrad oder einer der anderen von sich gab. Außerdem sah er nicht schlecht aus. Mit klassischer männlicher Schönheit hatte sein weiches, geschlechtsloses Gesicht zwar wenig zu tun, doch seine Augen waren kleine Kunstwerke aus warmem Braun, und von Kopf bis Fuß trug er etwas Reines, Sauberes an sich. Edeltraud tat für ein paar Sekunden, was viele Frauen gerne tun, drehte das Rad der Zeit einige Umdrehungen weiter und stellte sich vor, wie sie neben ihm vor dem Traualtar stand. Würde es eine jüdische oder eine christliche Hochzeit werden? Sie konnte nicht umhin sich auszumalen, wie sie sich wohl als Schlossdame machte.
„Wir hätten ein hübsches Zimmer anzubieten, dessen Fenster nach vorne hinaus geht“, erklärte Konrad.
Edeltraud stellte den leeren Teller ab und tupfte sich damenhaft den Mund mit der Serviette. „Ich nehme an, es wäre dreist, um ein Zimmer auf der Rückseite zu bitten? Die Rückfront mit ihren verspielten Figuren gefällt mir ungeheuer.“
„Momentan ist keines dieser Zimmer verfügbar“, meinte Samuel. „ Wir bewohnen sie. Die Studentenzimmer gehen nach vorne hinaus.“
„Oh.“ Edeltraud tat so, als wäre sie überrascht. In Wirklichkeit hatte sie so etwas erwartet. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass man ihr einen der Räume überlassen würde, aus dem sie einen Blick auf das hatte, was hinter dem Schloss war.
Was immer ihr Kutscher auch dort erblickt hatte – es würde möglicherweise wieder zu sehen sein, an derselben Stelle. Sie war überzeugt davon, dass jeder auf dem Schloss wusste, worum es sich handelte.
Nach dem Essen brachten alle mit vereinten Kräften ihr Gepäck auf ihr Zimmer, alle außer Erwin, der den Raum neben ihr bewohnte und sich rasch dort einschloss, vermutlich, um seine Pläne zur Welteroberung zu schmieden. Edeltraud fand ihr Zimmer erfreulich groß und sauber und die Aussicht zufriedenstellend. Wenn sie allerdings aus dem Fenster sah, konnte sie das Gefühl nicht ganz abschütteln, mit dem Rücken zu etwas Grauenvollem zu stehen …
5
In der Nacht erwachte sie an einem Geräusch.
Es musste schon gegen Morgen sein. Ein Schimmer Helligkeit kroch bis über ihr Bett, die Wände zeichneten sich fahl ab. Übergangslos war sie wach, wusste auf Anhieb, wo sie sich befand. Auch das Geräusch war gut einzuordnen. Es war eine Tür gewesen, ein schnappendes Schloss.
Ohne Zögern tauchte sie unter dem schweren Federbett hervor, ging barfuß zum Fenster und sah nach draußen. Wenn sie ihr Gesicht gegen die Scheibe drückte, konnte sie beinahe das Portal erkennen. Sie wettete mit sich selbst, dass die Person, die eben ganz in ihrer Nähe eine Tür geöffnet hatte, schon bald das Haus verlassen würde. Das Klacken des Schlosses war von gegenüber gekommen, vermutlich von Konrads oder Charmaines Zimmer.
Es dauerte eine halbe Minute, dann huschte eine schlanke weibliche Gestalt in einem wallenden Nachthemd ins Freie.
Charmaine!
War die Französin auf dem Weg in den Garten, an die Stelle, wo sie sie zum ersten Mal gesehen hatte? Die helle Bekleidung machte es zu einem Kinderspiel, ihr mit den Augen zu folgen. Zumindest bis sie an der Hausecke verschwand.
Edeltraud traf eine prompte Entscheidung. Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln, warf sich einen Mantel über und schlich in den Flur hinaus. Ihr erster Gedanke war gewesen, sich in Charmaines Zimmer zu stehlen
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