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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Charmaine eine Figur aus heißem, triefendem schwarzem Wachs.
    Edeltraud ertrug es nicht mehr. Sie spürte förmlich, wie ihr Verstand offen und verletzlich dalag, und sie wusste, dass die Berührung der monströsen Hand ihm eine unheilbare Wunde zufügen würde. Ihr blieb nur die Flucht, wenn sie ihn retten wollte.
    Sie kreiselte herum, lief zunächst auf die Mauer zu, korrigierte sich dann und fand den Weg am Haus vorbei. Ins Schloss zurückzukehren und ihr Gepäck zusammenzusuchen, war keine Option. Das Gebäude hatte nur einen Ausgang. Wenn sie im Haus war, saß sie in der Falle. Obwohl ein Rest Vernunft ihr sagte, dass Charmaine ihr nichts tun wollte, sah sie die Frau in der Insektenhülle in Gedanken in der Tür stehen, ihr den Fluchtweg abschneidend.
    Mit nichts als einem Nachthemd und einem Mantel bekleidet, rannte sie die Einfahrt entlang, stürzte durch das Tor und stolperte in die Nacht hinaus. Als sie den ersten Pantoffel verlor, wandte sie sich nicht danach um, sondern streifte absichtlich auch den zweiten ab.
    Edeltraud Zeiss lief in ein Halbdunkel aus windgepeitschten Bäumen hinein. Es war eine Welt, in der alle Dämonen und Ungeheuer, von denen sie jemals gehört hatte, real zu sein schienen. Zahllose Male wich sie zuckenden Schatten aus und hätte nicht sagen können, ob es Drachen oder Zyklopen oder einfach nur große, bizarr geformte Sträucher waren.
    Stundenlang irrte sie durch den Wald, und die Sonne stand längst am Himmel, als sie den Weg nach Wolfach fand. Zwei Regenschauer waren niedergegangen und hatten sie bis auf die Haut durchnässt. Erschöpft, frierend und durstig taumelte sie durch das Dorf. Eine ältere Frau nahm sich ihrer an und fragte, woher sie komme und was geschehen sei.
    Noch ehe sie antworten konnte, machte sie eine Entdeckung. Unabsichtlich war sie in die Nähe des Gasthofs gelaufen, an dem sie am Vortag Halt gemacht hatten. Vor dem Haus stand noch die Kutsche, mit der sie gekommen war. Sie dankte der hilfsbereiten Dorfbewohnerin flüchtig und schwankte zur Tür des Gasthofs. Im Schankraum saß ihr Kutscher, umringt von einer Traube aus Dörflern. Er erzählte gerade seine Geschichte, und Edeltraud nahm an, dass er das nicht zum ersten Mal tat. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen wässrig. Er musste trotz der frühen Stunde schon einige Schoppen gekippt haben – vielleicht hatte er auch die ganze Nacht durchgetrunken.
    „Ein Wasser“, krächzte sie. Der Wirt, der auch unter den gebannten Zuhörern war, brachte ihr rasch eines. „Er hat recht“, keuchte sie, nachdem sie das Glas in einem Zug geleert hatte. „Der Kutscher. Jedes Wort, das er spricht, ist wahr.“
    Der Wirt sah sie mit finsterem Blick an. „Daran zweifelt hier niemand.“
    Das Mädchen ließ den Kopf in die Hände sinken und überließ sich den Tränen. Als sie Minuten später wieder aufblickte, hatte sich die Zuhörerschaft um ihren Tisch versammelt.

6
    Ein Jahr zuvor, im August 1897
    Es war nicht leicht gewesen, einen Priester aufzutreiben, der bereit war, ein Spukschloss zu segnen. Konrad war bis nach Alpirsbach gereist, wo er im Kloster einen Mönch gefunden hatte, der sich der Aufgabe gewachsen sah. Frater Cornelius war ein feister Mann undefinierbaren Alters, glatzköpfig, mit dicken, herabhängenden Backen von teigiger Konsistenz und einem Doppelkinn, das auf seine Brust klatschte, wenn er nickte. Er ließ sich durch Falkengrund führen, kritzelte mit Kreide Kreuze und biblische Sprüche an die Türen und prüfte wie nebenbei Konrads Bibelfestigkeit. Der Illusionist hatte keine fromme Erziehung genossen und konnte keine der Fragen zur Zufriedenheit des Klerikers beantworten, sondern warf wichtige Psalmen mit den Zehn Geboten durcheinander. Die Geister in der Halle entzogen sich zunächst ähnlichen Befragungen, indem sie sich einfach nicht zeigten, und man hätte für den Moment annehmen können, die Ankunft des Kirchenmannes hätte sie verjagt.
    Als Charmaine ihnen über den Weg lief, erstrahlten die Augen des Ordensbruders, der bis dahin einen finsteren Exorzistenblick aufgesetzt hatte. Mit ihr plauderte er über das Wetter, lobte ihr Deutsch und ihre „bergpredigthafte Sanftheit“, womit er vermutlich ihren verführerischen Charme meinte. Einen Dämon erschnupperte er in ihr nicht.
    Das Problem war gar nicht Charmaine.
    Es war Samuel.
    Frater Cornelius machte deutlich, dass er nichts gegen Juden habe, da vor Gott alle Menschen gleich seien. Allerdings sei es ein Faktum, dass die Juden

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