Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Gras befinden. Vorsichtig drückte sie die Halme zur Seite, deren höchste ihr bis zur Brust reichten. Der Wind frischte auf, ihr war kalt. Wolken schoben sich vor den Mond, und eine solche Dunkelheit umhüllte sie, dass ihre Ohren begannen, die kaum hörbaren Geräusche aufzufangen, die die kleinen Körper auf der Erde machten. Es war wie ein unendlich leiser Trommelwirbel. Er trieb die Szene auf einen Höhepunkt zu, unaufhaltsam, gnadenlos.
    Als Edeltraud innehielt, krochen einige der Tiere an ihren Waden empor, doch ehe sie sie abstreifen konnte, waren sie bereits wieder verschwunden. Offenbar hatten sie erkannt, dass das Mädchen nicht das war, wonach sie suchten. Die Käfer erschienen ihr beinahe intelligent, als würden sie von einem denkenden Wesen geleitet …
    Sie wich dem Hauptstrom der Insekten aus, folgte in paralleler Linie ihrem unwirklichen Marsch.
    Nun mischte sich ein neuer Ton zwischen die Geräusche: ein leises Summen oder Stöhnen. Es schien aus der Erde zu kommen. Die junge Frau blieb stehen. In wenigen Metern Entfernung war das Gras in einer Gerade niedergetreten, und unmittelbar vor ihr gab es eine Mulde.
    Inzwischen war die Wolkendecke dünner geworden. Das Gespenst eines nahezu vollen Mondes spukte am verschleierten Himmel, riss Einzelheiten aus der Szene heraus und verbarg andere. Sie blickte auf die umgekippten Halme vor ihr. Irgendetwas bewegte sich dort am Boden, eine dunkle Masse, unter der ab und an helle Flecken hervorschimmerten. Schwarze Chitin-Körper rieben aneinander, die Käfer hatten sich wie eine Flut über etwas gezogen, das hell und weich war …
    Edeltraud wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis sich die Scharen an einer Stelle lockerten und ein Gesicht zum Vorschein kam.
    Ein Schrei erstarb in ihrer Kehle. Obwohl sie Charmaine suchte, wollte sie nicht wahrhaben, dass sie sie gefunden hatte! Die Französin lag mit dem Gesicht nach oben im Gras, von einer dicht gewebten Decke aus wimmelnden Käfern überzogen. Charmaine Morice rührte sich kaum, doch dass sie lebte, konnte man an dem leichten Heben und Senken ihrer Brust erkennen. Auch waren ihre Augen geöffnet, ihr Mund zu einem verklärten Lächeln gekräuselt. Auf eine morbide Weise unterstrich das Kleid aus Insekten, das sie trug, nur ihre überirdische, hagere Schönheit. Das Summen, das die Siebzehnjährige vernommen hatte, drang hinter diesen Lippen hervor, als würde sie sich und die Tiere zu beruhigen versuchen.
    Doch Charmaine war nicht vollkommen abwesend. Ihr Blick wanderte in kleinen Zuckungen in Edeltrauds Richtung. Ihr Lächeln vertiefte sich, und langsam richtete sie sich auf, stützte sich auf dem Boden ab. Erhob sich.
    Edeltrauds Füße schienen mit dem Boden verwachsen zu sein, so vollkommen unfähig war sie zu fliehen. Einige der Käfer fielen vom Leib der Französin herab, doch die meisten hatten sich mit ihren Beinen am Nachthemd festgekrallt. Bis auf eine handtellergroße Fläche in ihrem Gesicht, die die Tiere freigelassen hatten, war sie komplett von ihnen überzogen.
    Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben, was der Kutscher gesehen hatte.
    Der Satan, der vor ihm gestanden hatte, war eine Masse aus schwarzen Käfern gewesen, lebendig und mit den groben Umrissen eines menschlichen Körpers.
    Obwohl Edeltraud wusste, dass sich unter der Hülle der mahlenden Panzer nicht der Leibhaftige, sondern Charmaine Morice verbarg, mit der sie vor einigen Stunden noch an einem Tisch zu Abend gegessen und einige belanglose Worte gewechselt hatte, hielt das Grauen ihre Seele in den Krallen. Das Blut schien siedend heiß durch ihre Adern zu pulsen, ihr Mund war ausgetrocknet, als hätte sie seit Tagen keinen Tropfen mehr getrunken. Die Angst, die sie empfand, überstieg alles, was sie jemand gefühlt hatte. Es ging so weit, dass ihr Körper nicht mehr ihr selbst zu gehören schien, dass er ihr vorkam wie ein fremdes Stück Fleisch, das sie am liebsten weggeworfen hätte. Ihre Arme hingen kraftlos nach unten, der Wind zerrte ihr den Mantel von den Schultern.
    Durch die Schleier der Verklärung schien Charmaine sie zu erkennen.
    „ Tu as peur “, bildeten die Lippen der Frau müde die Worte. „ Du ’ast Angst. Gib mir deinö ’and … Isch kann ös värschwindön lassön … “Charmaines Rechte hob sich und berührte sie beinahe. An den Fingern der Französin hingen besonders viele der Käfer. Dadurch wurden die Hände zu unförmigen plumpen Gebilden, von denen unablässig Insekten herabfielen, als wäre

Weitere Kostenlose Bücher