Totenruhe - Bleikammer - Phantom
schon bei der Rückwand. Bitte erschrecken Sie nicht.“
Es gab nichts, absolut nichts, was diese Warnung notwendig gemacht hätte. Die Wand wies Dutzende von Reliefs auf, Menschen, Tiere, Fabelwesen, bis hinauf zu einigen hässlichen Gargoyles, die mit ihren vorstehenden Augen auf sie herabglotzten. Es war ein ungewöhnlicher Anblick, gewiss, aber in manchen Kirchen sah man schaurigere Szenen, und selbst unter dem grauen Himmel in der einsetzenden Dämmerung wirkte die Wand kaum bedrohlich. Edeltraud ging das Gebäude in seiner vollen Länge ab, inspizierte die Schmuckelemente und fand daran manches Interessante, aber nichts, was einen gestandenen Mann in solche Aufregung zu versetzen vermochte. Spaßeshalber versuchte sie sich auszumalen, eines dieser Wesen würde sich unvermittelt zu bewegen beginnen. Würde sie in diesem Fall schreiend ums Haus rennen und, den Namen des Leibhaftigen im Mund, die Flucht ergreifen?
Wohl eher nicht.
Sie löste ihre Blicke von der Wand, betrachtete den Garten. „Garten“ war vielleicht ein wenig zu viel gesagt. Auch hier wucherte das Gras relativ unkontrolliert, doch es gab einen Pfad, der quer durch die Wiese hindurch bis zur Mauer führte. Auf diesem Weg stand eine Frau und sah zu ihnen herüber. In ihrer Nähe war das Gras niedergedrückt, und es schien, dass sie von dort kam und erst jetzt auf den Weg trat. Sie war jung, sehr schlank, beinahe knochig, trug ein weißes, wehendes Kleid, das sie wie eine Spukerscheinung wirken ließ. Ihr ebenmäßiges Gesicht hatte einen verklärten Ausdruck.
„Ah, Charmaine ist hier“, sagte Samuel. „Charmaine, das ist Fräulein Zeiss.“
Die Frau kam nur langsam näher, und die ungeduldige Edeltraud konnte gar nicht anders, als ihr ein Stück entgegenzugehen. Die beiden reichten sich die Hände.
„ Sähr ärfreut “, sprach Charmaine leise mit enormem französischem Akzent.
„Sind Sie schon länger hier draußen?“, konnte sich Edeltraud die Frage nicht verkneifen. Die Sache mit dem Kutscher vermochte sie nicht so leicht abzuhaken. „Haben Sie eben hier einen ziemlich dicken Mann gesehen, der sich etwas … merkwürdig benommen hat?“
„ Ja, isch ’abö ihn gäsähön. Und isch glaubö, är ’attö Angst “, erwiderte die Französin.
„Aber wovor denn? Haben Sie eine Erklärung? War hier sonst noch etwas – oder jemand?“
Charmaine sah sich demonstrativ um. „ ’ier war nur isch … “
„Kommen Sie“, drängte Samuel. „Hier draußen wird es bald unangenehm kalt. Sie werden sich noch erkälten. Ich stelle Ihnen jetzt die wichtigste Person auf Schloss Falkengrund vor.“
„Ich dachte, das sind Sie?“
„Ganz im Gegenteil, Fräulein Zeiss, ganz im Gegenteil. Ich bringe Sie zu Konrad Winkheim, dem Mann, der die Schule des Okkulten gegründet hat. Er ist ein großartiger Mensch.“ Ein leichter Nebenklang in seiner Stimme schien anzudeuten, dass er möglicherweise nicht ganz glaubte, was er sagte.
Während Samuel ihre Hand nahm und sie mit sich zog, wie Kinder das manchmal taten, warf sie der Französin noch einen Blick zu. Das weiße Kleid wehte im immer stärker werdenden Wind, und Edeltraud fragte sich, ob der Kutscher die Frau aus der Ferne gesehen und für einen Spuk gehalten hatte.
Dann fiel ihr etwas auf.
An Charmaines Haaransatz bewegte sich etwas. Es war keine Locke, sondern etwas Lebendiges. Etwas Kleines, Schwarzes. Eine Spinne oder … nein, es war ein Käfer. Er tauchte aus ihren Haaren auf und verschwand wieder darin. Sie schien es nicht zu spüren.
Edeltraud setzte zu sprechen an, um sie darauf hinzuweisen, doch dann schnürte das Grauen ihr die Kehle zu.
Der Käfer kroch erneut aus den Haaren der Französin hervor, krabbelte quer über ihre Stirn und dann an ihrem Auge vorbei über die Wange nach unten, das Kinn entlang über den Hals. Schließlich lief das Insekt auf den weißen Stoffbahnen ihres Kleides hinab.
Charmaines Miene blieb während alldem unverändert. War es möglich, dass es ihr entging, wenn ein Käfer über ihren ganzen Leib kroch? Oder wusste sie davon und tolerierte es?
Edeltraud bekam kaum mehr mit, wie Samuel Rosenberg sie an ihrem Gepäck vorbei ins Haus führte.
2
Ein Jahr zuvor, August 1897
Konrad lag ausgestreckt auf dem Bett, die Arme abgespreizt. Er war vollkommen nackt, und mit Ausnahme der weißen Seidenhandschuhe war es die Frau auch, die nun langsam über ihn hinweg kroch.
Charmaines Körper war so leicht über dem seinen, fast wie eine Feder. Ihr offenes
Weitere Kostenlose Bücher