Totenruhe
er. Schließlich war sie mehr als gerächt worden.
Er war jung und stark und wenn auch nicht unbedingt gut aussehend, so doch attraktiv genug, um ohne große Mühe Frauen anzuziehen. Außerdem war er klug genug, um zu wissen, dass die Millionen seines Onkels einen Teil dieser Anziehungskraft ausmachten. In ganz Las Piernas war bekannt, dass Mitch Yeager und seine Frau kinderlos geblieben waren und ihre Neffen Eric und Ian abgöttisch liebten, die ihre Eltern verloren hatten, als sie noch nicht einmal zehn Jahre alt waren.
Er fragte sich, was die Leute in Las Piernas wohl von Onkel Mitchs jüngstem Akt der Wohltätigkeit halten würden. Die Adoption hatte sich zwar noch nicht herumgesprochen, aber ob die Frauen wohl immer noch so scharf darauf wären, mit Eric und Ian auszugehen, wenn sie wüssten, dass Onkel Mitch jetzt einen kleinen Sohn hatte?
Onkel Mitch hatte ihnen versichert, dass er immer für sie sorgen würde, aber Eric war beunruhigt. Ian, der jünger und kühner war als Eric, hatte dessen Bedenken abgetan. »Ohne
Onkel Mitch wären wir viel schlechter dran. Er hätte sich nicht die Bohne um uns kümmern müssen, und schau nur, was er uns andauernd Gutes tut. Wir sind ihm ein bisschen Loyalität schuldig - denk an Tante Estelle.«
Eric hatte nicht viel Achtung vor seiner Tante, die sich immer alles gefallen ließ, aber er wusste, dass sie kleine Kinder liebte und immer traurig gewesen war, dass sie selbst keines hatte. Vielleicht hatte Onkel Mitch, wie Ian behauptete, dieses Baby ihretwegen in sein Haus aufgenommen.
Das bezweifelte Eric.
Er wusste auch, was Ian dazu sagen würde. Ian nannte ihn manchmal »Fraidy« wie in »Fraidy Cat«. Eric hatte ihn deswegen mehr als einmal nach Strich und Faden verprügelt, doch Ian hatte noch niemand etwas mit den Fäusten beibringen können. Dafür bewunderte ihn Eric heimlich, aber trotzdem wünschte er, Ian würde das mit Onkel Mitch endlich kapieren. Sie konnten nicht ewig auf ihn zählen. Erst recht nicht jetzt, wo dieses neue Kind aufgetaucht war.
»Onkel Mitchs Pläne sind immer gut«, hatte Ian beharrt. »Das weißt du.« Er hatte gelächelt und Eric gegen die Schulter geknufft. »Du bist doch nicht eifersüchtig auf so ein winziges Baby, oder?«
»Ich mache mir nur Sorgen um die Zukunft, kleiner Bruder«, hatte Eric erwidert. Ab und zu musste er Ian unter die Nase reiben, dass er der Ältere war.
»Weißt du, was mit dir nicht stimmt? Du brauchst eine Beschäftigung. Wenn du nichts Besseres zu tun hast, machst du dir Sorgen.«
Eric gab zu, dass das stimmte. Heute Abend war er überhaupt nicht dazu gekommen, sich Sorgen zu machen - bis jetzt, wo er hier saß und auf Ian wartete.
Eric fasste in die Jackentasche und zog eine Schachtel Zigaretten und ein silbernes Feuerzeug mit Monogramm heraus. Es waren weder seine Initialen noch sein Feuerzeug. Er drehte
am Zündrädchen des Feuerzeugs, und schon beim ersten Versuch kam eine Flamme. Erfreut darüber klappte er das Feuerzeug mit einer raschen Handbewegung zu und wiederholte den Vorgang mehrmals, ehe er sich eine Pall Mall ansteckte, etwas, das Onkel Mitch massiv widerstrebt hätte. Onkel Mitch hasste Zigaretten. Eine Pfeife oder hin und wieder eine Zigarre hätte seinen Beifall gefunden. Das gehörte auch zu dem ganzen verrückten Scheiß, mit dem sich Eric abfinden musste.
Jetzt, wo er ungesehen bleiben sollte, wäre es Onkel Mitch besonders zuwider gewesen, ihn rauchen oder mit dem Feuerzeug spielen zu sehen. Außerdem hätte er Eric sowieso dafür zu Klump geschlagen, dass er das Feuerzeug überhaupt gestohlen hatte.
Es passte ihm auch nicht, dass Eric und Ian gern James-Bond-Bücher lasen. Irgendwie begriff er nicht, dass das die einzigen Bücher waren, die ihnen gefielen. Onkel Mitch wollte gesellschaftlich aufsteigen, und deshalb war er dagegen, dass sie Groschenromane lasen. Na und? Eric hatte ein Exemplar von Liebesgrüße aus Moskau zu Hause liegen, das nur auf ihn wartete.
Hin und wieder musste Eric einfach etwas tun, das Onkel Mitch nicht gefiel.
Erneut fasste er in die Jackentasche und fand Trost in den kleinen Gegenständen darin.
Sollte Onkel Mitch ruhig sein Baby haben. Eric würde schon dafür sorgen, dass es ihm und Ian an nichts fehlte.
Der Beton unter seinen Füßen war so feucht, als hätte es bereits geregnet. Er blickte sich um. Diese alten Schnapsschmugglertunnels waren wirklich nicht behaglich. Der hier führte zu einer Villa oben auf der Steilküste. Die Boote kamen in
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