Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
noch etwas ein. Juri hatte nachweislich ein Elektrokabel vom Computer benutzt, um Rosenfeld von hinten zu erdrosseln. Auch wenn er es de facto postmortal getan hatte. Das bedeutete, er hatte nicht bemerkt, dass der Treffer mit der Schere tödlich gewesen war. Erst im Nachhinein hatte er die Erklärung gefunden, die er auch mir präsentiert hatte: Es fließt so gut wie kein Blut nach außen, wenn man das Herz trifft. Das war ein starkes Indiz, dass er Rosenfeld in jedem Fall hatte umbringen wollen. Er hatte ihn zweimal getötet.
Oben im Zimmer zog Richard mich gleich hinter der Tür an sich und küsste mich. Er fickte, als sei es das letzte Mal.
68
So kam der Tag. Die Sonne plemperte herum. Halb Berlin Mitte verfranste sich in Absperrungen. Aber ich gehörte zu den VIP s mit Ausweis am Bändel, die zum Reichstag durchgeschleust und zu den Tribünen hochgebracht wurden, wo ich eine Stunde zu früh meinen Platz links vorn einnahm und auf die leeren violetten Stühle der Abgeordneten hinunterschaute.
Finley stand zu diesem Zeitpunkt dem ARD -Studio gegenüber an der Reichstagsbuchhandlung und wartete darauf, dass die Beamten in Zivil ihm Katzenjacob brachten, um mit ihm ein paar Schritte am Reichstagsufer entlang bis zu der Stelle zu gehen, wo an der Ufermauer entlang eine Treppe zum Fluss hinunterführte. Dort würden sie sich am Geländer hinstellen und warten. Damit Juri Katzenjacob nicht vorzeitig erkannt wurde, würde er Sonnenbrille und Kapuze tragen.
Ich gebe zu, dass in mir der Wunsch zuckte, die Leute würden ihn erkennen und sich in einen rächenden Mob verwandeln, bevor Finley ihn wegzaubern konnte. Aber wollte ich, dass Pilger, die sich hier im Heiligen Geist versammelt hatten, zu Kains wurden? Ich rettete mich in die Vermutung, dass man, auch nachdem einer eine neue Identität bekommen hatte, Ermittlungen gegen ihn aufnehmen konnte. Allerdings wenn man Katzenjacob in einem Jahr dann wegen Mordes vor Gericht stellte, würde man seine alte Identität wieder hervorholen müssen. Dann wäre alles, was wir heute taten, umsonst gewesen. Abgesehen natürlich davon, dass wir die Geiselnehmer in Transsilvanien überlistet hätten und die Kinder längst wieder frei waren.
Unten gingen Parlamentsdiener im Frack hin und her und verteilten bedruckte Blätter auf den Tischen. Die Tribüne füllte sich allmählich mit dunklen Anzügen und Damen mit Frisuren in raschelnden Kleidern.
Gleichzeitig baute Derya auf dem Schiffbauerdamm ihren Camcorder auf, der über den Fluss hinweg stets Katzenjacob am andern Ufer im Fokus haben würde. Sie hatte Cipión bei sich, dem keine besondere Aufgabe zukam außer der, Kinder und Mütter zu erfreuen und von der Tatsache abzulenken, dass Derya an einer Stelle filmte, wo der Papst garantiert nicht vorbeikommen würde. Neben Derya waren noch drei andere von Finleys Team mit Kameras und videofähigen Handys unterwegs. Denn wir selbst mussten die Hoheit über die später in den Medien verbreiteten Bilder erringen.
Richard würde vermutlich herumwandern und telefonieren. Mit Finley und Derya zusammen hatte er mich zum Bundestag gebracht und mir, bevor ich durch die Schranke ging, ein »Mach’s gut!« ins Ohr geatmet. Ich hatte ihm Cipións Leine übergeben. Er hatte meine Hand umschlossen und nicht gleich loslassen wollen. Sogar geküsst hatte er mich, wenn auch etwas flüchtig und verlegen. Noch nie hatte er mich in der Öffentlichkeit geküsst, nie vor seinen Freunden oder meinen. Derya lächelte vor sich hin und schaute weg, Finley dachte sich nichts dabei und klopfte mir auf die Schulter. »Toi, toi, toi!«
Das hing mir jetzt nach. Wir waren an einem Kiosk vorbeigekommen, ich hatte mir Zigaretten gekauft, er aber nicht, obgleich in seiner Schachtel von gestern Abend nur noch wenige Stängel gesteckt hatten. Vielleicht kaufte er sich nachher welche. Er würde viel Zeit haben, das zu tun. Aber warum nicht gleich?
Die Tribünen waren mittlerweile schwarz vor Menschen aus einem langen Leben in Villen mit Aufgaben, Verdiensten und Goldschmuck. Auch die Abgeordneten strömten herein, mit knacksenden Knöcheln wie in eine Kirche. Wir setzten uns aufrecht.
Und stolz erkläre ich jetzt hier, dass ich mich nicht bekreuzigte, als der Heilige Vater hereinkam. Vielleicht war das unsere Rettung. Nämlich, dass ich nicht in die religiöse Verschwörung geriet.
Ich schaute auf die Uhr. Finley hatte den Zeitablauf genau festgelegt. Ich hatte noch 35 Minuten, bis ich dran war, und versuchte
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