Totenstimmung
Schrecklich falsch. Wenn der weiße Flieder wieder blüht, Wochenend und Sonnenschein, Que Sera und so Sachen. Auf dem Keyboard.«
»Kreuder?«
Johanna Eßers sah Franks fragenden Blick. »Peter Kreuder. Ist vor zwei Jahren gestorben. Lungenkrebs. Hat nie Sport gemacht, dafür aber geraucht wie ein Schlot. Na ja, Pech gehabt. Ich habe mich früher immer fit gehalten, mit Schwimmen, Wandern, noch heute gehe ich lieber die Treppen, als in den Aufzug zu steigen. Da drinnen ist sowieso immer nur schlechte Luft.«
Frank war sichtlich enttäuscht über Kreuders Tod. »Sie können sich aber noch gut erinnern.«
Der Blick der Seniorin sprach Bände. Frank ahnte, was sie von ihm hielt.
»Mein Mann hat Mundharmonika gespielt, als er noch lebte. Und gut hat er gespielt. Gesungen haben wir dazu, wenn sonntags sein Bruder Martin mit seiner Frau und seinem Schifferklavier kam.« Sie seufzte und prüfte erneut vorsichtig die Temperatur des Kessels. »Schmissige Melodien konnte Kurt auf seiner Mundharmonika spielen. Das war eine große, mit einem Schieber. Kennen Sie vermutlich nicht.«
Frank sagte nichts.
»Sein Bruder und er haben toll zusammengespielt. Sie waren ein gutes Duo. Wenn wir draußen in unserem Schrebergarten gesessen haben, damals, kamen alle zum Zuhören. Hermann hat ganz verrückte Sachen spielen können.«
»Ich finde es toll, wenn man Musik machen kann. Ich …«
Johanna Eßers unterbrach ihn. »Er konnte sogar das Lied aus diesem Wildwestfilm. Wie hieß das noch gleich? Ich hatte jedes Mal eine richtige Gänsehaut.«
Das Gespräch mit Johanna Eßers brachte sie nicht weiter. Die alte Dame hatte in der Tat außer ihrem Erlebnis am Müllcontainer nichts zu berichten.
Trotzdem hatten die beiden Kriminalhauptkommissare mehr als eine Stunde in Johanna Eßers’ Wohnung zugebracht. Die Seniorin hatte es sich nämlich nicht nehmen lassen, den unerwarteten Besuch zweier Gesetzeshüter zu nutzen, um sich einmal ausführlich über Sicherheitsfragen im Viertel und im Allgemeinen auszutauschen.
Als die beiden Kommissare endlich entlassen wurden, brummte ihnen der Schädel.
»Wer hatte eigentlich die Idee mit dieser Befragung?« Ecki ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
»Das ist erst der Anfang. Für mich ist klar, die Puppe ist bewusst hier abgelegt worden. Wir werden das ganze Viertel auf den Kopf stellen.« Frank deutete mit dem Kinn durch die Windschutzscheibe. »Ich will, dass sämtliche Rentner, Mütter mit Kindern, Hundebesitzer und wer sonst noch hier wohnt, befragt werden.«
Ecki sah einer Frau mit dunklem Kopftuch und langem Mantel nach, die mit zwei großen Tüten langsam an ihnen vorbeiging. »Das kann ewig dauern. Ich bin sicher, dass der Fundort der Puppe nichts mit dem oder der Unbekannten zu tun hat. Sieh dir doch das Viertel an. Hier wohnen doch nur Rentner und Arbeitslose. Und wir vergeuden unsere Zeit.«
Frank knurrte etwas Unverständliches und ließ den Motor an. Dann schaltete er den CD -Player ein.
»Bitte nicht«, flehte Ecki. »Keinen Blues!«
»Stell dich nicht so an. Ich bin dran mit Aussuchen.« Frank lächelte. »Kennst du eigentlich das Mundharmonika-Intro von Spiel mir das Lied vom Tod ?«
—
Es gibt keinen Künstler, wenn er nicht immer seine Kindheit in der Tasche hat. – Werner Schroeter
Er betrachtete den gerahmten Spruch. Wie wahr er doch ist, dachte er vergnügt.
Beschwingt wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Bevor er aber den sauber ausgeschnittenen Zeitungsartikel mit Klebstoff bestrich, um ihn dann fein säuberlich auf das vorbereitete Papier zu drücken, drehte er die Hi-Fi-Anlage noch ein wenig lauter.
Neue Texte, Bilder, Zitate, Berichte, dazu Maria Callas. Diese göttliche, betörende und intensive Stimme! Er musste an das Zitat denken, das man Ingeborg Bachmann zuschrieb: »Maria Callas singt nicht, sie lebt auf der Rasierklinge.« Er seufzte. Besser hätte er diese Stimme und ihr Leben nicht beschreiben können.
Er sah zur Wand. Jede der drei Uhren zeigte eine exakte Zeit: 10.46 Uhr, 9.30 Uhr und 9.15 Uhr.
Die Zeiger standen nur für den unkundigen Betrachter wie zufällig still. Für ihn markierten sie das intensivste Gefühl, den wirklichen Höhepunkt, zu dem ein menschlicher Organismus fähig ist: die ekstatische Anspannung vor dem ersten Schuss und das vorausschauende Wissen um die kommenden Minuten; das Glücksgefühl, die Brücken abgebrochen zu haben und körperlich zu spüren, dass es keinen Weg zurück gibt, dass am Ende
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