Totentaenze
Fingernägel schwarz lackiert.
»Du hast Papas Augen«, stellte sie fest.
»Grün wie Wackelpudding«, murmelte ich.
»Wackelpudding?« Sie runzelte die Stirn. »Ach so, das grüne Zeug? Ihh, das ist so glibberig.«
»Wie Froschlaich!«
»Genau!«
Wir lachten – etwas verlegen, aber es war ein Anfang.
Im nächsten Moment langweilte sie sich bereits wieder, sprang vom Drehstuhl und bückte sich zu den Pappkartons hinunter, die sich seit meinem Einzug noch immer hinter der Tür stapelten: der ganze Krempel aus meinem früheren Leben.
»Soll ich dir nicht mit den Kisten helfen?« Sie sah mich herausfordernd an, geradezu lauernd.
Ich schüttelte den Kopf. »Lass die Finger von meinem Kram.«
»Willst du sie überhaupt nicht auspacken?«
»Irgendwann vielleicht, aber nicht heute.«
Ich zuckte zusammen, als sie neben mir aufs Bett sprang: »Mann, dir fehlt wirklich nur noch der Besen zum Herumwirbeln.«
»Papa musste eure Wohnung auflösen. Er hat gesagt, deine Mutter hat seit Wochen keine Miete mehr bezahlt. Und du hast echt keinen Plan gehabt, dass sie so krank war?« Laura starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»NEIN! Das hast du mich schon hundert Mal gefragt.«
Sie spielte an meinem alten Kassettenrekorder herum, der auf dem Nachttischkästchen stand. »Sie haben das Zimmer extra neu für dich eingerichtet.«
Ich musste an die alte Wohnung denken, in der ich mit meiner Mutter gelebt hatte. Sie schlief immer auf der Couch im Wohnzimmer, während ich mein eigenes Zimmer hatte. Na ja, ich sollte wohl eher Kabuff sagen! Eine Matratze auf dem Boden (mein Bett), ein paar Holzbretter auf Ziegelsteinen (das Bücherregal) und ein Campingtisch, den Mami bei eBay für fünf Euro und dreiunddreißig Cent ersteigert hatte und der mir als Schreibtisch diente.
Und nun saß ich hier, in dieser Nobelhütte, in einem Luxuszimmer, das … ganz ehrlich! … verdächtig einem Büro ähnelte. Doch ich war nicht zum Arbeiten hergekommen, sondern um zu überleben – und das bedeutete: auf keinen Fall zurück ins Heim!
»Hast du den Laptop schon ausprobiert? Ein Superhammergerät! Mit DVD-Brenner und Webcam. Nur keine Games, aber wenn du Jo bittest, dann spielt er dir vielleicht Gothic 3 drauf …«
»Ich hasse Computerspiele«, unterbrach ich Laura genervt.
»Ich nicht.« Sie drehte sich auf die Seite, stützte den Kopf auf und sah mich eindringlich an. Die Smokey Eyes, die ich ihr geschminkt hatte, wirkten auf ihrer blassen Porzellanhaut wie Katzenaugen. »Findest du es nicht aufregend, eine neue Schwester und einen neuen Bruder zu haben? Obwohl, ein Bruder ist einfach nicht dasselbe und Jo ist …«
»Was?« Ich sah sie abwartend an.
»›Anstrengend‹, sagt Mama. Jo weiß immer alles besser. Er mischt sich in alles ein. Wirst du noch merken. Oh, manchmal ist er einfach so gemein!« Sie seufzte.
»Na ja, Gott sei Dank, mein Bruder ist er ja nicht.«
»Und deine Mutter hat echt von uns gewusst? Wie wir heißen, wie alt wir sind, wo wir wohnen?« Laura kniff beim Reden die Lippen zusammen; ein vergeblicher Versuch, ihre Zahnspange zu verbergen. »Und trotzdem hat sie nie über uns gesprochen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Also, als Mama von dir erfahren hat, war erst mal die Hölle los. ›Wer weiß, wo DIE herkommt und welche Probleme DIE mitbringt.‹« Laura verfiel in ihr Hexengekicher. »›Und DIE ist garantiert asozial.‹«
Kaltes orangefarbenes Licht flackerte vor dem Fenster und erleuchtete das Halbdunkel des Zimmers. Als ob Geister draußen durch die Straßen schlichen und flüsterten: »Trick or treat. Trick or treat. Was Schönes her, sonst hexen wir …«
»Ich habe gelauscht«, flüsterte nun auch Laura, »als sie sich abends unterhalten haben. Ich habe es Jo erzählt und er meinte, wo du herkommst, sei jeder Zweite ein Assi.«
Jo (18) war der älteste Sohn von Stephanie. Ich (15) war die älteste Tochter meines Vaters und Laura (13) war sowohl dessen als auch Stephanies Tochter. Ja, es war ziemlich kompliziert. Ehrlich gesagt hatte ich mich immer noch nicht daran gewöhnt. Aber ich wusste ja auch erst seit Kurzem, dass ich überhaupt eine Familie hatte.
Laura sprang auf, ging zum Schrank, öffnete ihn, ohne zu fragen, holte meine Lederjacke heraus und zog sie über. Die Jacke stand ihr gut.
»Ich bin vielleicht assi, aber ich öffne nicht einfach fremde Schränke«, murmelte ich.
»Aber die ist sooo cool! Bitte, bitte, darf ich sie heute Abend anziehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
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