Totentaenze
»Nein, die gehört mir nicht.«
»Wem denn?«
»Einem Freund.«
»Aha.« Sie grinste anzüglich. »Und wer ist eigentlich Kim? Eine Freundin?«
»Na ja«, murmelte ich, »wir sind befreundet, seit ich überhaupt denken kann.« Woher wusste sie von Kim? Ich hatte den Namen ihr gegenüber nie erwähnt – überhaupt wusste hier niemand von Kim.
Laura zog die Jacke aus und ließ sie einfach zu Boden fallen. Erneut setzte sie sich neben mich aufs Bett und nahm meinen geliebten alten Teddy in die Hand.
Stopp! Es wurde höchste Zeit, dass ich sie loswurde. Kleine Schwestern waren offenbar nicht nur in Büchern lästig, sondern auch in der Realität.
»Weißt du, Fabienne, meine Freundin, wo ich heute Abend feiere, sie sagt, dass du …«
Sie brach ab, denn in diesem Moment steckte Stephanie den Kopf zur Tür herein.
»Laura, wir müssen los!« Sie wandte sich zu mir, konnte mir aber – wie immer, seit ich hier wohnte – nicht in die Augen sehen. Also hob sie stattdessen die Lederjacke vom Boden auf und strich sie glatt, wobei sie einen missbilligenden Seufzer ausstieß. Stephanie war den ganzen Tag damit beschäftigt, durchs Haus zu rennen und zu seufzen. Und wenn sie nicht seufzte, schwirrte sie herum, fuhr mit den Fingern über die Möbel, jammerte über die schmutzigen Fenster und saugte Staub.
Mir lag schon auf der Zunge »Das war nicht ich, sondern Laura!«, aber ich schwieg, denn da, wo ich herkomme, steht auf Verrat so etwas Ähnliches wie die Todesstrafe.
»Und du möchtest wirklich nicht mit mir auf die Halloweenparty?« Laura sah mich bittend, ja schon fast flehend, an.
»Nein!« Ich hatte echt keine Lust, mit Dreizehnjährigen Apfelsaft zu trinken, Topfschlagen zu spielen und Gruselgeschichten zu hören. Außerdem, Halloween – da ging es um Knochen, Totenschädel, Geister, Skelette. Ehrlich, mir war nicht danach, ein Totenfest zu feiern, nach allem, was passiert war.
»Schade«, sie verzog das Gesicht. »Fabienne plant etwas richtig Gruseliges. Wenn ich nicht komme, ist sie ewig sauer auf mich! Und sie will unbedingt meine große Schwester kennenlernen. Fabienne … sie ist meine allerallerbeste Freundin.«
»Wenn du mich fragst, sie ist ein Monster«, hörte ich Jo, der ebenfalls den Kopf zur Tür hereinstreckte.
»Und du bist so gemein!« Laura streckte ihrem großen Bruder die Zunge heraus.
Happy family!
»Laura schläft bei Fabienne, aber ich bin spätestens um elf zurück«, erklärte Stephanie ungeduldig, mit Blick auf die Uhr. »Jo bleibt hier. Ich habe beim Lieferservice angerufen und euch eine Pizza bestellt. Dein Vater kommt erst morgen früh wieder von seiner Geschäftsreise zurück.«
Komisch, obwohl ich meinen Vater fünfzehn Jahre lang überhaupt nicht gekannt hatte, vermisste ich ihn jetzt.
Nach und nach verklangen die Stimmen im Haus und dann fiel die Tür ins Schloss.
Als sie weg waren, kam wieder diese Stille, die dieses Haus verhexte.
Ich griff nach der Lederjacke und vergrub mein Gesicht darin. Mein Herz klopfte wie verrückt vor Sehnsucht. Ich schloss die Augen und ließ die Tränen einfach kommen.
Meine Erinnerung an diesen schrecklichen Tag war so lebendig. Ich konnte mich bis in alle Einzelheiten erinnern. Kims Mutter hatte uns bereits am Hauptbahnhof erwartet. Das war seltsam gewesen. Wir brauchten schließlich schon seit der zweiten Klasse keinen Aufpasser mehr, sondern bewegten uns überall in der Stadt, als befänden wir uns in unserem eigenen Kiez.
»Du kommst erst mal zu uns«, blaffte Conni zusammen mit einer Schnapsfahne in meine Richtung. Dem Geruch nach tippte ich auf Wodka Gorbatschow.
»Warum?«, fragte ich verwirrt, aber Kim stieß mir den rechten Ellbogen in die Seite und zischte fast lautlos: »Frag nicht so blöd, Lena, sonst überlegt sie es sich anders.«
Kim und ich hatten immer fest zusammengehalten, waren verbunden durch – wie Kim es nannte – dieselbe Erwachsenenscheiße im Leben, denn wir hatten beide alleinerziehende Mütter und in der Spalte Vater stand in der Geburtsurkunde: UNBEKANNT!
Als ich Conni so vor mir sah, in ihrer gelben Jogginghose, ihren grünen Gummistiefeln und einem orangefarbenen T-Shirt von Kim, ahnte ich bereits, dass etwas nicht stimmte. Sie ging so gut wie nie aus dem Haus, außer um ihre Alkoholvorräte aufzufüllen. Aber ich wollte es gar nicht so genau wissen. Verdammt! Ich kam schließlich gerade von einer Klassenfahrt zurück, die mein Leben verändert hatte. Ich wollte einfach nicht, dass irgendjemand
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