Totentaenze
Augen schauen mich besorgt an, dann senkt sie schnell den Blick. Und mir fällt wieder ein, dass Lina auch irgendwas von wegen Foto gesagt hat.
»Nein, noch nicht, schieß los.«
»Aber du erinnerst dich an das Foto, das du mir geschickt hast?«, fragt Marie mit leiser Stimme und schaut an meinem Gesicht vorbei.
Mir wird ziemlich warm unter der Decke. Damals hatte ich gedacht, es wäre cool, so ein Foto von mir an Marie zu schicken. Was gab es da auch schon zu verbergen? So sah ich eben aus. Aber jetzt denke ich, das hätte ich besser nicht tun sollen. Vielleicht habe ich sie damit erschreckt oder abgestoßen.
»Du musst wissen, dass du in Wirklichkeit nicht mir geschrieben hast, sondern Vanessa und ihrer Gang. Ich war noch nie bei den Lokalisten, Netzwerkcommunitys langweilen mich.« Marie zieht ihre Augenbrauen hoch und verfällt in eine Art schrille Babysprache: »Willst du mein Freund sein, dann bin ich dein Freund, hey, schau mal, die bliblablu hat schon tausend Kontakte, ist das nicht tooollll?« Ihre Stimme wird wieder normal. Sie rutscht unbehaglich auf dem Stuhl hin und her, als hätte sie Schmerzen beim Sitzen.
»Als Vanessa gemerkt hat, dass ich nicht bei den Lokalisten bin, hat sie das schamlos ausgenutzt. Sie hat einfach meinen Namen und ein Foto von mir benutzt und eine Fake-Marie ins Netz gestellt. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie entzückt sie war, als du angefangen hast, mir – oder besser dieser gefakten Marie – Mails zu schreiben. All deine Antworten sind bei ihr gelandet und letztendlich hat sie dich mit ihren Mails dazu gebracht, dass du ihr das Nacktfoto geschickt hast. – Und das hat sie natürlich nur allzu gerne gepostet.« Marie räuspert sich. Man merkt ihr förmlich an, wie schwer es ihr fällt, darüber zu sprechen. »Wenn ich nicht zufällig gehört hätte, wie Vanessa und ihre Gang auf der Toilette mit ihren Heldentaten geprahlt haben, wäre ich wahrscheinlich immer noch ahnungslos. Natürlich wollte ich es dir gleich am nächsten Tag sagen, aber du …«, Marie blickt mich an und senkt dann schnell wieder ihren Blick, »na ja, ich meine, das war der Tag, nachdem du den Unfall hattest. Und dann hat deine Schwester das Ganze entdeckt und gedacht, du bist deshalb gegen den Baum gefahren …«
Ich fühle mich, als hätte jemand mit einem großen Holzhammer auf meinen Schädel geschlagen. Meine Hände sind eiskalt und trotzdem schweißnass. Da habe ich gerade gedacht, ich wüsste jetzt alles und muss nun feststellen, dass ich gar nichts weiß. Das hat Nils also vorhin gemeint, als er gesagt hat, dass es ihm Spaß gemacht hat, mich zusammen mit Vanessa zu verarschen.
»Aber … du hast mir doch geantwortet …«
Marie rutscht näher. Zu den Maiglöckchen mischt sich jetzt auch noch der Duft von Erdbeersahnejoghurt. »Nie im Leben hätte ich so einen Müll geschrieben. Hast du dich denn nie darüber gewundert? Hast du wirklich gedacht, ich wäre so eine falsche Schlange und würde dich in der Schule völlig ignorieren, aber heimlich deine Briefe lesen?«
»Jetzt, wenn du das so sagst, komme ich mir saudämlich vor.« Tatsächlich fühle ich mich gerade wie der größte Vollidiot, der auf Gottes Erdboden wandelt. War ich denn wirklich so blind gewesen? »Aber andererseits – warum hätte ich je daran zweifeln sollen? Da war dein Bild, deine Adresse und ich wusste ja, dass du sehr schüchtern bist …«
Marie beugt sich näher zu mir. Ihr Duft ist so intensiv, ich kann ihren Atem in meinem Gesicht spüren. Ein Schauer läuft über meinen Körper. Ob sie mich tatsächlich küssen würde?
»Marie …«, fange ich an, klinge ein bisschen heiser, finde ich, und sage etwas fester: »Marie!«
»Hier ist der Kaffee!«
Meine Schwester ist zurück.
»Wie konntest du nur glauben, ich würde mich wegen eines lächerlichen Fotos umbringen?« Ich versuche, meine Stimme böse klingen zu lassen. Muss sie ausgerechnet jetzt auftauchen?
Marie legt ihre Hand auf meinen Arm und lächelt Lina an. »Ich kann Lina gut verstehen! Wenn ich mir vorstelle, ich hätte rausgefunden, dass jemand meinem Bruder so was angetan hat … Da kann man schon auf solche Gedanken kommen.«
Lina lächelt zurück, sie nicken sich zu.
Was ist das denn, die große Mädchenverschwörung? Irgendwie kommt mir das Ganze komisch vor. Ausgerechnet Marie und Lina …
»So schlimm findet ihr also mein Bild?«, frage ich in gespieltem Ernst.
»Nein, nein«, versichern beide wie aus der Pistole geschossen.
»Also
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