Totenwache - Thriller
Richtung. Die alte Frau war nur seinetwegen aufgestanden - und das alles wegen nichts .
Es folgte ein schrecklicher Augenblick verlegenen Schweigens.
»Nein - es gibt nichts Neues. Angelita ist immer noch … Ich meine, ich bin gar kein Arzt.«
Wieder drückte die Mutter Julians Arme und ließ sie dann los. Drei kindliche Augenpaare waren fragend auf sie gerichtet. Die Schultern der alten Frau erschlafften, sie sackte in sich zusammen und schien einem Zusammenbruch nahe. Doch am allerschlimmsten: In den Augen des Vaters loderte wieder die alte Wut. Julian biss sich auf die Unterlippe. Er hatte den Leuten, wenn auch nur für Sekunden, Hoffnung gemacht - ihren Blick wieder in die Vergangenheit gelenkt. Jetzt war seine Aufgabe doppelt schwer.
»Und was wollen Sie dann?«, knurrte der Vater. »Lassen Sie uns in Ruhe.«
»Ich bin nur vorbeigekommen … weil ich fragen wollte … ob ich etwas für Sie tun kann«, stammelte Julian.
»Was wollen Sie denn für uns tun? Können Sie unsere kleine Angelita etwa wieder zum Leben erwecken? Können Sie das? Nein? Sie sind ja nicht mal Arzt.«
Die Frauen waren wieder zum Sofa gegangen, hatten erneut zu schluchzen begonnen und warfen Julian feindselige Blicke zu.
»Ich bin hier, weil ich Ihnen sagen wollte, dass Ihre Tochter nicht umsonst gestorben ist.«
Der Vater sah seine Frau ratlos an und fragte: » ¿Qué quiere decir? ›Umsonst‹.«
»Inútil«, übersetzte sie. »›Sinnlos‹.«
Der Vater fuhr zornig herum. »Dann war Angelitas Tod also nicht sinnlos? Was wollen Sie von uns? Nennen Sie das Hilfe?«
»Nein. Tut mir leid. Bitte - lassen Sie mich doch erklären.« Er trat vor das Sofa, setzte ein Lächeln auf, legte dem Mädchen die Hand auf den Kopf. Die Kleine tauchte nach unten weg und schmiegte sich an ihre Mutter.
»Es gibt da noch ein anderes kleines Mädchen. Sie ist sehr krank. Sie liegt nicht weit von hier in einer Klinik. Angelita kann ihr helfen.«
»Angelita kann niemandem mehr helfen. Angelita ist tot.«
»Trotzdem kann sie ihr helfen. Ein Teil von ihr kann helfen.«
Die Mutter starrte Julian verwirrt an - bis sie plötzlich begriff und ein Ausdruck des Grauens auf ihrem Gesicht erschien.
Julian sah genau, was passierte. Jetzt kam alles auf die nächsten Sekunden an. Er ging in die Offensive.
»Wir möchten Sie um die Erlaubnis bitten, Ihrer Tochter die Nieren zu entnehmen. Die Ärzte würden die Organe gerne dem todkranken kleinen Mädchen einpflanzen, von dem ich gesprochen habe. Das könnte ihr Leben retten.«
Der Vater sah wieder seine Frau und die Großmutter an. Dann ein rascher Wortwechsel auf Spanisch: » Angelita … los doctores … sus riñones … trasplante.«
Die alte Frau stöhnte auf.
Der Vater taumelte einige Schritte zurück, als ob ihm jemand einen Faustschlag versetzt hätte.
»Ist Angelita deswegen gestorben?«, fragte er. »Haben die Ärzte überhaupt versucht, sie zu retten?«
»Mr. Juarez, natürlich haben sie das. Die Ärzte haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um …«
Der Vater ging auf Julian los, entriss ihm die Akte, gab sie ihm dann zurück. »Das Mädchen im Krankenhaus«, sagte er dann. »Welche Hautfarbe hat sie?«
»Mr. Juarez. Das spielt doch überhaupt keine Rolle …«
» Welche Hautfarbe?«
Julian öffnete umständlich die Akte und ließ den Finger langsam über die erste Seite gleiten, ohne etwas zu suchen. Er kannte die Antwort ohnehin.
»Das kleine Mädchen … das kleine Mädchen, um das es hier geht, ist, wie es scheint, hellhäutig.«
» Anglo«, schimpfte der Vater. »Dann ist Angelita also gestorben, damit eine kleine Weiße überleben kann!«
»Mr. Juarez, hier geht es nicht um die Rassenzugehörigkeit - ganz und gar nicht.« Julian merkte es selbst: Je mehr er widersprach, umso hohler klangen seine Worte.
»Mr. Juarez, hören Sie mir doch bitte mal zu. Angelita ist tot. Sie spürt nichts mehr.«
»Aber ich habe Gefühle. Ich spüre etwas.«
»Es liegt in Ihrer Macht, das Leben eines kleinen Mädchens zu retten.«
»Und Sie! Hätte es nicht in Ihrer Macht gestanden, das Leben meiner kleinen Tochter zu retten?«
»Mr. Juarez. Bitte versetzen Sie sich doch einmal in die Situation des anderen Mädchens.«
Der Vater sah Julian erstaunt an. »Meine kleine Angelita ist noch keine Stunde tot. Da kommen Sie und sagen zu mir: »Bitte geben Sie mir ihre riñones! Wir möchten Angelita
gerne aufschneiden. Und dann verlangen Sie von mir, dass ich an ein anderes kleines Mädchen denke?
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