Totenwall
Lichtung, durch Menschenhand geschaffen, von der aus eine künstliche Schneise in leichtem Schwung das gewachsene Grün durchschnitt. Aber Sören Bischop stand in keinem Wald. Er stand inmitten der Hamburger Altstadt, und es waren keine Bäume, sondern Steine, die man gerodet hatte. Bis auf die Hauptkirchen St. Jacobi und St. Petri, deren Türme die Schneise flankierten, hatte man nichts stehen gelassen. Von keinem Punkt der Stadt aus hatte man die beiden Kirchen bislang zugleich sehen können. Nun wetteiferten sie in ihrer vollen Größe mit Turm und Fassade des neuen Hamburger Rathauses, das sich am Ende der Straße erhob. Alles andere hatte man niedergelegt – kein Gebäude war den Abrissbaggern entkommen. Die alten Gemäuer und Höfe der Hamburger Gänge, der Gassen und Twieten waren verschwunden. Letzte Reste der ursprünglichen Bebauung standen noch diesseits der Steinstraße, aber auch sie würden in den nächsten Wochen den Abrissbirnen und Spitzhacken zum Opfer fallen. Hier gab es keine Zukunft mehr für die windschiefen Buden, die sich im Wildwuchs über die Jahre immer mehr verdichtet hatten. Die Höfe und Wohnstätten der Kirchspiele waren verschwunden.
Eigentlich hätte man die Kirchen gleich mit abreißen können, sinnierte Sören. Das waren keine ketzerischen Gedanken. Letztendlich hatten die Gotteshäuser an dieser Stelle der Stadt ihre Daseinsberechtigung verloren, denn in unmittelbarer Umgebung wohnten keine Schäfchen mehr, die man hätte betreuen können. So etwas traute man sich natürlich nicht auszusprechen. Aber es war die Realität. Hamburg war dabei, Metropole zu werden. Man wollte in direkte städtebauliche Konkurrenz zu London und Paris treten, mit Berlin galt es mindestens gleichzuziehen. Die Aufforstung dazu hatte bereits begonnen. Allerdings nicht in Form kleiner, zarter Setzlinge, deren Wuchs sich über Jahrzehnte hinziehen würde. Nein, was entlang der Lichtung gebaut wurde, waren riesige Klötze, deren hohe Fassaden – hätte man die Schneise nicht über dreißig Meter breit angelegt – die Straße zur Schlucht gemacht hätten. In Bau und in Planung befanden sich ausnahmslos Geschäftshäuser, Hotels, Kontor- und Warenhäuser, und legte man Gestalt und Höhe der bereits fertiggestellten Bauten an Spitalerstraße, Pferdemarkt und Bergstraße zugrunde, dann würden in absehbarer Zeit nur noch die Turmspitzen der Kirchen von hier aus zu sehen sein. Die Klosterburg am Glockengießerwall, das Semperhaus und auch das Commeterhaus deuteten an anderer Stelle bereits an, was auch hier entstehen würde. Nur sollten Größe und Pracht an der zukünftigen Mönckebergstraße, wie der große Durchbruch zu Ehren von Senator Mönckeberg genannt worden war, eine nochmalige Steigerung erfahren.
Sören schlenderte in Richtung Rathaus. An den Seiten tat sich eine Baugrube neben der anderen auf. Auf Höhe des Barkhofs ragten bereits die unteren Geschosse der Neubauten aus dem Boden. Wohin er auch blickte, die Stadt war eine einzige Baustelle. Nicht nur hier. Überall in Hamburg wurde gebuddelt, abgerissen, gebaut. Höher, größer, schneller … spektakulärer. Vor allem die Bauten des Verkehrswesens beherrschten die Stadt und schienen sich gegenseitig übertrumpfen zu wollen. Der Bau des neuen Zentralbahnhofs vor vier Jahren war der Anfang gewesen. Danach hatten die Landungsbrücken in St. Pauli ein neues Gesicht erhalten, und im letzten Jahr hatte man mit dem Tunnelbau unter der Elbe begonnen. Viel imposanter als diese spektakulären Einzelbauten aber waren die über hundert Baustellen der zukünftigen Ringlinie, die sich wie riesige Maulwurfshügel über die ganze Stadt verteilten. Sören fühlte sich vom Baulärm umzingelt. Dazu kamen die Zahnschmerzen, die ihn seit Tagen plagten. Und dann noch diese außerordentliche Schwüle. Es war kaum zu ertragen.
Im Café Liebmann hatte Sören Glück. Er ergatterte einen der begehrten Fensterplätze. Von hier aus hatte man freien Blick auf den scheinbar unaufhaltsamen Strom der Großstadt. Flanierende Menschen auf den Bürgersteigen, dazwischen hektisch laufende Boten, Händler, die ihre Handwagen und Karren schoben, überladene Pferdefuhrwerke, vereinzelt Automobile, die sich im Schritttempo durch das Chaos auf den verstopften Straßen bewegten, dahinter vorbeiratternde Straßenbahnwaggons, teils im Minutenabstand, teils dicht auf dicht folgend, bis sich der Tross der einzelnen Linien hinter dem Rathausmarkt auflöste und die Wagen ihren
Weitere Kostenlose Bücher