Totenwall
Zielpunkten entsprechend in alle Himmelsrichtungen entschwanden.
Sören orderte ein Kännchen Kaffee und ein Glas Zitronenwasser – der Renner der Saison. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte allen zu schaffen. In den letzten Tagen hatten sich Gewitter und Regengüsse ungewöhnlich heftig über der Stadt entladen. Sören konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals erlebt zu haben. Dabei war Hamburg noch relativ glimpflich davongekommen. Die Wetterlage schien über ganz Deutschland Kapriolen zu schlagen. In Süddeutschland hatte es massenhaft Überschwemmungen gegeben, und am Rand der Alpen waren ganze Häuser von Schlammlawinen überspült und fortgerissen worden. Dagegen waren die paar vollgelaufenen Kellerräume in der Stadt nur von lokaler Bedeutung. Auch den Blitzschlägen und Bränden im Hamburger Umland widmete die Tagespresse nur beiläufige Aufmerksamkeit. Der Raubmord im Bankhaus Goldmann & Cie. beherrschte immer noch die Schlagzeilen. Auch hier im Café war das Thema in aller Munde, wie Sören den Gesprächen an den Nachbartischen entnehmen konnte. Vielleicht auch, weil Elias Goldmann in diesem Etablissement ein häufig anzutreffender Gast gewesen war. Aber die ganze Stadt sprach eigentlich von nichts anderem. Vom Wetter einmal abgesehen.
Das eiskalte Zitronenwasser betäubte den pulsierenden Schmerz in Sörens Kiefer. Langsam, als könnte der Zustand auf diese Weise unbegrenzt andauern, blätterte er durch das Fremdenblatt, dann durch den Anzeiger. Selbst die Berichte über den bislang unsichtbaren Kometen waren angesichts des Raubmordes in den Hintergrund gerückt. Dabei gab es offenbar keine wirklich neuen Erkenntnisse. Man zerriss sich den Mund mit Spekulationen. Die Täter waren über einen der Ringbahnschächte von außen in das Bankgebäude eingedrungen. Sie waren direkt im Tresorraum im Keller gelandet. Der als einbruchsicher geltende Panzerschrank war fachmännisch aufgeschweißt worden, doch bei dieser Arbeit mussten die Täter überrascht worden sein. Im Vorraum zur Tresorkammer hatte man den Seniorchef des Bankhauses gefunden. Tot. Mit eingeschlagenem Schädel. Über die Höhe der Beute gab es nur Vermutungen. In der Tresorkammer, immerhin ein Raum von über zwanzig Quadratfuß, konnte alles Mögliche gelagert worden sein. Man munkelte etwas von einem Millionenraub, dreist und brutal. Andere tuschelten, es handle sich um den größten Raub, der je in der Stadt geschehen sei. Die Polizei hielt sich unterdessen bedeckt. Für sie war es unvorstellbar, wie sich die Täter in das Gebäude hatten graben können, ohne von den Arbeitern im Bahnschacht bemerkt zu werden. Man ging von einer Komplizenschaft aus.
Die andere Schreckensmeldung ging im Tumult der Spekulationen fast unter. In einem Erdwall in Barmbeck war die Leiche einer Frau gefunden worden, ohne Kopf. Zufällig, da das Erdreich des zukünftigen Bahndamms durch die Regengüsse aufgeweicht und abgerutscht war. Ein Kapitalverbrechen, ohne Frage. Ohne die heftigen Unwetter wäre die Tat wahrscheinlich nie entdeckt worden. Das war natürlich auch schrecklich, aber bei weitem nicht so spektakulär wie der Raubmord in der Stadt; den Zeitungen war der Vorfall daher nur eine Randnotiz wert. «Scheint ja ein mordsmäßiger Sommer zu werden», spöttelte Frederik Liebmann mit dem ihm eigenen Sarkasmus, als Sören die Rechnung beglich. Das «Passen Sie auf sich auf», das Liebmann zur Verabschiedung hinterherschob, ging in der Geräuschkulisse des Cafés unter.
Die Straße empfing Sören, als würde er ein Dampfbad betreten. Der Himmel war immer noch bedeckt, und die schwüle Luft gierte förmlich nach einem Hauch Wind. Trotz der Baumwollkleidung lief Sören schon nach wenigen Metern der Schweiß herunter. Die Krempe des neuen Panamahuts rutschte auf der Stirn. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte sich noch ein Zitronenwasser gegönnt. Die Zahnschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Direkt neben ihm wischte sich ein beleibter Mann mit einem schmutzigen Taschentuch das Gesicht trocken. Alles ächzte und stöhnte unter der feuchten Wärme. Die zierlichen Sonnenschirme, unverzichtbares Accessoire der Damenwelt auf dem Trottoir, blieben zusammengeklappt und dienten als Stütze, nicht als Schutz.
Sören blickte zur Uhr. Es war kurz nach vier. Eine knappe Stunde blieb ihm noch. In die Kanzlei zurückzukehren machte da kaum Sinn. Er hatte Tilda versprochen, sie von der Probe abzuholen. Am frühen Abend waren sie bei David eingeladen, der etwas mit
Weitere Kostenlose Bücher