Totenwall
die Schanze. Seit einigen Jahren bewohnte David eine Souterrainwohnung in der Glashüttenstraße zwischen Schlachthof und Karoline. Auch hier waren die Bauarbeiten der zukünftigen Ringbahn allgegenwärtig. Da die Glashüttenstraße wegen Pflasterungsarbeiten gesperrt war, konnten sie nicht bis vor die Tür fahren. Der Kutscher bot an, die Adresse von der anderen Seite aus anzufahren, aber das hätte einen riesigen Umweg bedeutet, und so legten sie den kurzen Rest der Strecke zu Fuß zurück.
Als David die Tür öffnete, wurde Sören bewusst, dass sie sich wirklich schon länger nicht mehr gesehen hatten. Auf der Straße wäre er glatt an seinem Sohn vorbeigelaufen, ohne ihn zu erkennen. Schuld daran war der Bart, den er nun trug. Kein majestätischer Zwirbelschnauzer, der sich für einen strammen Sozialdemokraten wie David natürlich verboten hätte, sondern ein kurz geschnittener Vollbart, der ihn merkwürdig alt aussehen ließ. Sören selbst hatte das Tragen eines Barts bis auf wenige Versuche stets abgelehnt, und den Versuchen hatte dann Tilda eine Absage erteilt.
David begrüßte ihn mit jovialem Schulterschlag, Mathilda mit liebevoller Umarmung. Sie verschwand buchstäblich zwischen Davids kräftigen Armen. Betrachtete man seine Statur, erkannte man spätestens dann, dass kein gemeinsames Blut in ihren Adern floss. David war fast einen Kopf größer als Sören, hatte breite Schultern und auch sonst athletische Maße. Er füllte den Türrahmen fast vollständig aus. Sein krauses Haar trug er mittellang, vereinzelt fielen ihm Strähnen in die Stirn.
Sören und Mathilda bemerkten, dass sie nicht die einzigen Gäste waren. David stellte ihnen seinen Freund und Parteigenossen Erwin Schmalfeld sowie die Genossin Rosa Wimmer vor. Rosa hatte eine ähnliche Statur wie David, dazu Hände, die nach Arbeit aussahen, und Sören spekulierte sofort, ob sie Davids Freundin war. Ihr Verhalten gab darüber keine Auskunft. Er warf Tilda einen fragenden Blick zu, ob sie einen der beiden aus der Partei kannte, aber anscheinend waren sie ihr unbekannt. Rosa hatte die Küche in Beschlag genommen, und alle mussten zum Schälen antreten. Erst die Kartoffen, dann den Spargel. Irgendwie hatte sich Sören eine Einladung zum Essen anders vorgestellt, aber als Tilda sich wie selbstverständlich mit einem Messer bewaffnet an den Küchentisch setzte, gab er klein bei und gesellte sich dazu.
Stolz präsentierte David einen Schinken, von dem er fingerdicke Scheiben abschnitt. «Nur mit ausgelassener Butter und Petersilie. Rosa besteht darauf.» Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu, den sie mit einem wissenden Lächeln quittierte: «Man muss sich entscheiden, ob der Schinken oder der Spargel die Hauptrolle spielt.»
Sören schätzte Rosa auf Anfang dreißig, so alt wie David. Vergeblich suchte er nach Gesten, ob sie David oder doch Erwin näherstand, aber es gab keine Hinweise, weder eine flüchtige Berührung noch ein verräterisches Wort. In dem Raum neben der Küche hatte David provisorisch zwei Tische zusammengestellt. Er drückte Sören Geschirr und Besteck für sechs Personen in die Hand.
«Wir warten noch auf eine Freundin. Liane Kronau. Die unerschrockene Aeronautin. Du wirst sicher von ihr gehört oder gelesen haben …» Sören verneinte entschuldigend. «Über ihre spektakulären Ballonaufstiege berichtet bereits die Presse», erklärte David seinem Vater. «Sie lässt sich auf einem Fahrrad sitzend in schwindelerregende Höhen tragen.»
«Ich habe von ihr gelesen», mischte sich Tilda ein. «Sie tritt im Varieté am Alten Schützenhof auf. Eine Freiluftartistin, nicht wahr?»
David nickte. «Ja, zurzeit. Eigentlich ist sie Tänzerin und Künstlerin, aber das Spektakuläre liegt ihr, und damit lässt sich momentan gutes Geld verdienen. Ihr werdet sie mögen.»
Also doch. Davids letzter Satz war nur in eine Richtung zu interpretieren. Er hatte also ein Mädchen – und das war nicht die grobschlächtige Rosa, wie Sören befriedigt zur Kenntnis nahm. Er versuchte, sich eine tänzerische Aeronautin vorzustellen, was ihm beim besten Willen nicht gelingen wollte, weil für ihn die Eleganz einer Tänzerin und die burschikose Tollkühnheit einer Aeronautin einfach nicht zusammenpassen wollten.
Als Liane Kronau dann etwas verspätet eintrudelte, musste sich Sören eingestehen, dass seine wildesten Phantasien nicht ausgereicht hätten, sich dieses Wesen auch nur annähernd auszumalen. Liane, wie sie von David vorgestellt
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