Totenwall
ihnen feiern wollte. Was, das hatte ihm sein Adoptivsohn nicht sagen wollen. Dann wäre es ja keine Überraschung mehr. Er hatte geheimnisvoll geklungen. Häufig sahen sie sich nicht. Mit seinen zweiunddreißig Jahren stand David längst auf eigenen Beinen, und Sören war stolz auf seine beruflichen Erfolge. Seit sechs Jahren arbeitete David als Chefzeichner bei der Altonaer Architektengemeinschaft von Ludwig Raabe und Otto Wöhlecke.
Mit gemächlichem Schritt schlenderte Sören über den Jungfernstieg. Er ging natürlich auf der Wasserseite, aber die erhoffte Kühle im Schatten der Bäume wollte sich nicht einstellen. Am Rand der Uferpromenade ließen ein paar Kinder ihre Füße ins Wasser des Sees baumeln. Er beneidete sie. Am liebsten hätte er es ihnen gleichgetan. Als er den Alsterpavillon passierte, konnte er dem Wunsch nach einem kühlenden Eiskaffee nur schwer widerstehen. An zierlichen Tischen erholten sich die Damen der Gesellschaft von ihren anstrengenden Einkäufen bei Eiscreme und Mokka. In ihrer modischen Staffage wirkten die Grüppchen wie pittoreske Gebinde aus farblich aufeinander abgestimmter Spitze, Satin und Mousseline. Sören überquerte den Gänsemarkt und schritt den Valentinskamp in Richtung Holstenplatz hinauf. Er kreuzte die Caffamacherreihe, warf einen Blick auf die alten Gemäuer der noch nicht abgerissenen Gänge zwischen Speckstraße und Bäckerbreitergang, fragte sich, wann man hier wohl beginnen würde, das alte Hamburg niederzulegen, dann schwenkte er hinüber zum Dragonerstall, wo der Bühneneingang der Laeiszhalle lag. Ein Arbeitsplatz, wie er schöner kaum sein konnte. Seit zwei Jahren hatte Mathilda die Stelle der Ersten Violine im Ensemble der städtischen Symphoniker inne, dem Residenzorchester der Laeiszhalle. Damals war das vom Reeder Laeisz gestiftete Konzerthaus gerade eingeweiht worden. Sören war ein Stein vom Herzen gefallen, als Tilda die Stelle bekommen hatte, denn jahrelang hatte sie damit geliebäugelt, gegebenenfalls nach Berlin zu gehen, wo man sehr um die begabte Violinistin gebuhlt hatte. Zunächst hatten die Kinder dieses Vorhaben verhindert, aber Ilka war inzwischen siebzehn, und auch Robert war mit seinen sieben Jahren nicht mehr auf die tägliche Fürsorge von Mathilda angewiesen.
Unter der cremefarbenen Leinenjacke trug Mathilda ein eng anliegendes Batistkleid, das ihre zierliche Figur betonte. Die Haare hatte sie hochgesteckt, mit ihrem schelmischen Lächeln und der kleinen, von Sommersprossen umgebenen Stupsnase wirkte sie immer noch wie eine junge Frau. Keine Spur von ihrem wahren Alter. Wenn man einmal davon absah, dass sie sich die Haare tönte, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass Tilda in diesem Jahr ihren 44. Geburtstag feierte. Den Geigenkasten unterm Arm, lächelte sie ihm entgegen, und wie immer wurde es Sören warm ums Herz. Auch nach so vielen Jahren der Vertrautheit war ein Funken Verliebtheit erhalten geblieben.
Eine flüchtige Umarmung, ihre übliche Begrüßung in der Öffentlichkeit. «Hast du inzwischen eine Ahnung, was David mit uns feiern möchte?», fragte sie auf dem Weg zum Droschkenstand.
«Vielleicht hat er sich verlobt», witzelte Sören. «Alt genug ist er ja. Ich frage mich schon seit langem, warum er uns nie eine richtige Freundin vorgestellt hat.» Ein wenig plagte ihn die Sorge, sein Zieh- und Adoptivsohn könnte einer ähnlichen Veranlagung erliegen wie sein bester Freund Martin. Martin Hellwege zog es bis ins hohe Alter vor, allein zu leben. Nicht aus Prinzip, sondern weil er sich eben nicht zum anderen Geschlecht hingezogen fühlte. Er gab der Gesellschaft von Männern den Vorzug, insbesondere von jüngeren Männern. Unwillkürlich musste Sören schmunzeln. Er hatte seinem Freund soeben ein hohes Alter attestiert, aber Martin war sein Jahrgang, und mit zweiundsechzig fühlte er sich noch nicht wirklich alt.
«Dann hätte er bestimmt etwas durchsickern lassen», bemerkte Mathilda. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, und eigentlich hätten sie auch zu Fuß gehen können, aber Sören zog es vor, die Stätten der Gerichtsbarkeit im Wagen zu passieren. Auf dem Justizforum zwischen den Gebäuden von Oberlandes-, Straf- und Ziviljustizgericht begegnete ihm immer jemand, der ihn oder den er kannte, und Mathilda hatte eine Abneigung gegen die belanglosen Förmlichkeiten, die zwischen Vertretern der Jurisprudenz auch in beiläufigen Situationen den Regelfall darstellten.
Die Droschke ratterte über das Holstenthor auf
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