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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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wurde, war fast so groß wie David, hatte die Statur eines hageren Mannes, einen Hals, der selbst Tildas filigranen Schwanenhals noch an Länge übertraf, darüber ein kantiges, scharf geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer römischen Nase. Das dunkelbraune, fast schwarze Haar trug sie mit geflochtenen, hochgesteckten Zöpfen eng am Kopf anliegend, sodass ihre Frisur an eine eiförmige Kappe erinnerte. Unter ihren buschigen Augenbrauen stach ein Blick hervor, der einem den Atem nahm. Fasziniert und ebenso irritiert stellte Sören fest, dass er noch nie zuvor einem so durchdringenden Blick begegnet war. Es kam ihm vor, als würde Liane Kronau durch seine Augen hindurch seine Gedanken lesen können. Entweder war ihre Iris von fast schwarzer Farbe, oder ihre Pupillen waren so sehr geweitet, dass sie die Iris verdrängt hatten. Verunsichert wandte er sich Tilda zu. Ihr schien es ähnlich zu gehen. Auch sie schien von Lianes Ausstrahlung fasziniert zu sein, sie begegnete ihr mit einem anmutigen Lächeln. Die anderen kannten Liane offenbar, es herrschte ein vertrauter Umgangston.
    «Was ist aus eurem Kometenclub geworden?», fragte Liane an David gewandt. Sie hatte eine heisere, belegte Stimme. «Habt ihr’s gemacht?»
    «Es war lustig, aber eigentlich hatten wir uns mehr versprochen. Halley hat sich nicht blickenlassen. Wir sind trotzdem mit einem Einspänner durch die Stadt», erklärte David seinem Vater und Tilda, die nicht wussten, wovon die Rede war. «Mit Frack, Zylinderhüten und weißen Handschuhen. Auf dem Wagen hatten wir ein mordsmäßig großes Fernrohr aus Pappe montiert, in den Händen hielten wir aus leeren Weinflaschen gebaute Krimstecher. Den Blick immer in Richtung schwarzes Firmament.» Er lachte. «Das sah bestimmt hochoffiziell aus. Alle Leute fragten dann auch neugierig, was es zu sehen gebe. Und wir haben immer nur geheimnisvoll geantwortet: Wir dürfen nichts verraten …»
    «Ich wäre so gerne dabei gewesen», sagte Liane Kronau. «Ihr seid mir schon ein paar schräge Vögel. Für jeden Blödsinn zu haben. Seid froh, dass man euch nicht verhaftet hat.»
    David grinste. «Für solche Fälle gibt es ja meinen Vater.»
    Erst jetzt wandte sie sich Sören zu und schenkte ihm ein Lächeln. Zwischen ihren Lippen blitzten makellose weiße Zähne. «David hat mir bereits viel von Ihnen erzählt.»
    Sören hätte gerne etwas erwidert, aber in dem Moment kam Rosa aus der Küche und stellte den Topf Kartoffeln auf den Tisch. Die Schale mit Spargel und ein Tiegel Butter folgten. Alles geriet in Bewegung, und jeder nahm Platz. Sie hatten die Wahl zwischen Schaumwein und Köstritzer Schwarzbier – die Flasche zu 20 Pfennig, wie David betonte. Sören wusste nicht, ob es somit ein Schnäppchen gewesen war oder ob er es als etwas Besonderes ansehen musste. Da niemand den Schaumwein wählte, nahm auch er ein Bier. Getrunken wurde aus der Flasche. Mathilda zögerte nur kurz, bevor sie die Flasche an den Mund setzte. Sören beobachtete seine Frau, die den anderen vom Alter her deutlich näher war als ihm. In Liane hatte sie sofort eine interessierte Gesprächspartnerin gefunden. Da war es wieder, das Gefühl, langsam alt zu werden.
    «Wenn der Spargel bissfester als der Schinken ist, ist beides gut», betonte Rosa. «Für die Butter kann ich nichts, die hat David organisiert.»
    «Den Schinken auch», protestierte David. «Der Rest kommt aus Rosas Heimat.» Wie verabredet stimmte Erwin mit ein, und gemeinsam brachten sie ein schalkhaft singendes
Finkenwäärder
über die Lippen. Es klang wie ein Trinkspruch, den alle anderen Anwesenden kannten.
    Rosa lachte. «Die Kartoffeln ja, den Spargel habe ich aus Bardowick.»
    «Kann nicht sein», erwiderte Erwin. «Ich schmecke einen Hauch von Scholle.» Alles lachte, dann verstummten die Stimmen. Das Essen war ausgezeichnet.
     
    Wie sich herausstellte, war Rosa eine früh verwitwete Fischersfrau aus Finkenwerder. Das Boot ihres Mannes galt nach einem Sturm im letzten Jahr als verschollen. Nicht einmal Wrackteile hatte man gefunden. Sie war neunundzwanzig und hatte zwei Kinder. Das Überleben sicherte die Sammlung des Hamburgischen Haupt-Fischerei-Vereins für Hinterbliebene, für alles andere arbeitete sie hart: vormittags in einer Jutespinnerei, jeden zweiten Tag bis in den Abend auf einem Obsthof im Alten Land. Weitere Unterstützung erhielt sie von den Parteigenossen. Vor allem wohl von Erwin, der ganz offensichtlich ein Auge auf sie geworfen hatte.

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