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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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er an das motorisierte Fahrrad gekommen war. Ein transatlantischer Zufall, anders konnte man es nicht nennen. Warum die Familie Amsinck gerade ihn mit der Nachlassabwicklung des in New York verstorbenen Familienmitglieds beauftragt hatte, war ihm bis heute ein Rätsel. Als Anwalt hatte er sich in der Stadt eher mit der Verteidigung von Menschen aus der Arbeiterklasse oder aus dem Milieu einen Namen gemacht. Aber die in Amerika lebende Witwe des Verstorbenen hatte darauf bestanden, dass er alles Erforderliche in die Wege leiten solle, hatte ihm ein stattliches Salär zukommen lassen und dazu noch alle Auslagen, darunter die Überfahrt nach New York, seine erste große Schiffsfahrt überhaupt, ohne Murren erstattet. Ein gutes Geschäft war es gewesen, zur Zufriedenheit aller Beteiligten.
    Und da ein solches Geschäft in seinem beruflichen Alltag die Ausnahme darstellte und wohl auch ein Einzelfall bleiben würde, hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, im Gepäck aus Amerika ebenjenes motorisierte Zweirad als Mitbringsel zu verschiffen. Eine Gray Fellow Twin des Herstellers Harley-Davidson. Das Modernste vom Modernen. Der Motor hatte über 800 ccm und leistete sagenhafte sieben Pferdestärken. Die Maschine gab einen höllischen Lärm von sich, vor allem bei Höchstgeschwindigkeit. Angeblich sollte das Gefährt über 90 Kilometer in der Stunde laufen, aber das hatte Sören noch nicht ausprobiert. Vor allem deshalb, weil man immer Gefahr lief, dass die Pferde auf den Straßen scheuten, wenn man knatternd herannahte. Sören schob das schwere Ungetüm durch die schmale Hofdurchfahrt, durch die gerade ein Handkarren passte, bockte es mit Schwung auf den Ständer am Hinterrad auf, entledigte sich der Kappe und der Brille und steuerte mit dem verwegenen Blick eines in die Jahre gekommenen Abenteurers auf den Eingang seiner Kanzlei zu.
    Frau Völckert, wie Fräulein Paulina nach ihrer späten Heirat nun hieß, erwartete ihn bereits dringlich. Über die vielen Jahre, die sie ihm schon als Vorzimmerdame zur Seite stand, war sie den Umgang mit den teils schwierigen Mandanten gewohnt, aber heute war sie ganz aus dem Häuschen. Sie war untröstlich, dass sie einen Klienten nicht hatte abwimmeln können. «Er ließ überhaupt nicht mit sich reden», entschuldigte sie sich, «und wartet seit über einer Stunde in Ihrem Zimmer.»
    Armin Brunckhorst, genannt Armin der Schränker. Klient mit Abonnement, wie Sören es ausdrückte. Bereits zweimal hatte er Brunckhorst vor Gericht vertreten, beide Male mit nur mäßigem Erfolg. Das letzte Mal hatte man ihm fünf Jahre aufgebrummt. Er konnte noch nicht so lange wieder auf freiem Fuß sein. Sören blieben wenige Sekunden, um sich auf diesen unangekündigten Gast vorzubereiten. Als er seinen Arbeitsraum betrat, tat er gelassen.
    «Armin Brunckhorst. Was für eine Überraschung! Kaum entlassen, und schon steht ein Ehrenbesuch an, oder wo drückt der Schuh?»
    Der Besucher schreckte aus dem Stuhl hoch, als Sören das Zimmer betrat. Nun stand er verlegen wie ein Schulkind vor ihm und hob mehrmals unschlüssig die Schultern, als traue er sich nicht, mit seinem Anliegen herauszurücken. «Schön wär’s ja», entgegnete er.
    Brunckhorst war schmächtig und kleinwüchsig. Dass er bereits über vierzig war, sah man ihm nicht an. Wie immer trug er einen schwarzen Anzug und glänzendes Schuhwerk aus Leder. Seine Melone baumelte an der Stuhllehne. Nicht zu vergessen seine Handschuhe. Brunckhorsts Markenzeichen, so wie der schmale Oberlippenbart.
    Wahrscheinlich trug er die Handschuhe auch nachts im Bett, dachte Sören. Er hatte ihn noch nie ohne gesehen. «Haste was ausgefressen, oder was treibt dich hierher?»
    «Kann man so sagen», druckste Armin Brunckhorst herum. «Riecht jedenfalls mächtig nach Ärger.»
    Sören ging um seinen Schreibtisch herum, warf einen Blick auf den Poststapel, den ihm Fräulein Paulina wie jeden Morgen zurechtgelegt hatte, dann fixierte er seinen Gast mit erwartungsvollem Schweigen. Brunckhorst strich sich mehrfach über den Bart. Er war nervös. Sören kannte die Gesten seiner Klienten. «Na komm schon. Raus mit der Sprache. Du kommst doch nicht ohne Grund her.» Erst jetzt bemerkte Sören den Koffer, der neben dem Stuhl stand. «Willst du verreisen?»
    Brunckhorst nickte. «So ungefähr. Ich mach ’ne Fliege, wenn Sie verstehen.»
    «Seit wann bist du draußen?»
    Brunckhorst hob drei Finger.
    «Tage? Wochen? Monate? Komm, mach’s nicht so spannend»,

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