Totgeglaubt
… klack … klack …
Das war keine Katze. Jemand war im Haus.
Sie schob ihre Tasche außer Sichtweite unters Sofa und schnappte sich eine kleine Tischlampe. Dann kroch sie leise zu der Wand, die an die Küche grenzte, und presste sich dagegen. Die Geräusche schienen von der Hintertür zu kommen.
Klack … klack … klack … Jemand lief über den Küchenboden.
Mit klopfendem Herzen beugte sich Allie vor und spähte um den Türrahmen herum. Sie hielt die Lampe mit ausgestrecktem Arm hoch, um sie dem Eindringling sofort über den Kopf ziehen zu können. Aber was sie sah, überraschte sie: Es war Grace, die ihre kleine Tochter in einer Babyschale trug.
“Grace?”, fragte sie und ließ die Lampe sinken.
“Hi.”
Allie stellte die Lampe auf den Tisch zurück und trat ins Licht der Küche. Sie fühlte sich zerwühlt, und ihre Augen brannten. “Wie bist du reingekommen?” Bevor sie die Farm letzte Nacht verlassen hatten, hatte Kirk die aufgestemmte Hintertür mit ein paar Brettern vernagelt. Sie sah, dass die Bretter immer noch an Ort und Stelle waren, und konnte sich nicht vorstellen, dass Grace mit ihrem Baby durchs Kellerfenster geklettert war.
“Ich hab einen Schlüssel für die Waschküche.” Grace nickte in Richtung des Raumes, der direkt an die Küche angrenzte.
“Ist etwas passiert?”, fragte Allie.
Grace musterte sie eingehend, dann stellte sie ihre schlafende Tochter neben sich auf den Boden und setzte sich an den Küchentisch. “Eine Menge Dinge stimmen nicht, oder?”, fragte sie mit einem müden Lächeln. “Aber ich bin nicht hier, um noch mehr schlechte Nachrichten zu bringen. Ich hatte Kennedy hergeschickt, um nach der Farm zu sehen, und er hat dein Auto auf der Auffahrt stehen sehen.”
“Ich hätte dir sagen sollen, dass ich hier bin, dann hättest du nicht mitten in der Nacht herfahren müssen. Tut mir leid.”
“Lauren war sowieso unruhig.” Grace zog die Babydecke zurecht. “Jetzt ist sie wenigstens eingeschlafen.”
Allie beneidete Graces süße Tochter um ihre Unschuld und Ahnungslosigkeit. “Ich hatte Angst, dass Joe zurückkommt”, erklärte sie.
“Ich weiß.”
Ein paar Minuten schwiegen sie. Dann räusperte sich Grace. “Wie geht es deiner Mutter?”
“Es ging ihr schon mal besser.”
“Und dir? Wie geht es dir?”
Allie wünschte, niemand würde ihr mehr diese Frage stellen. Sie war enttäuscht, verletzt, aufgewühlt und besorgt – besorgt um ihre Mutter, ihren Vater und um Clay. Aber Grace hatte einen so viel tieferen Schmerz erfahren, und dazu noch in sehr jungem Alter. Es musste schlimmer gewesen sein als alles, was Allie sich überhaupt vorstellen konnte. Und obendrein hatte Grace statt Unterstützung und Freundschaft nur Ablehnung und Feindseligkeit erfahren. Man hatte sie beschimpft und über sie getratscht – und sie sogar beschuldigt, Barker verletzt zu haben. “Nicht so gut”, sagte Allie leise.
Grace nickte. “Es tut mir leid. Ich wünschte, es wäre nicht ausgerechnet meine Mutter gewesen – ich meine, wenn es schon passieren musste.”
Allie tat sich schwer, Irene nicht mehr Schuld an der ganzen Sache anzulasten, als sie vermutlich trug – was sicher daran lag, dass sie sie nicht so gut kannte. Dabei war eigentlich klar, dass die Verantwortung nicht nur bei einer Person liegen konnte. Andererseits nahm Allie jetzt, nach den Fotos, die Affäre weniger wichtig, als sie es sonst wahrscheinlich getan hätte. Ihre Gedanken kehrten einfach immer wieder zu den Qualen zurück, die Grace und die zwei anderen Mädchen erlitten hatten.
“Es ist gar nicht so sehr die Affäre meines Vaters, die mich erschüttert”, platzte es aus ihr heraus.
Grace machte große Augen.
“Ich meine, das ist alles traurig, ganz gewiss, aber …” Allie fand nicht die richtigen Worte für ihre Gefühle. Und sie wollte Grace auch nicht mit ihren Worten quälen. Aber auf der anderen Seite hing Clays Verteidigung von Grace als Anwältin ab. Wenn sie zusammen an seiner Verteidigung arbeiten wollten, dann mussten sie ehrlich zueinander sein, oder? Wer auch immer ihr diese Fotos zugesteckt hatte, hatte seine Gründe. Allie war also nicht die Einzige, die die Fotos kannte.
“Grace …” Der Kloß in ihrem Hals hinderte sie am Weitersprechen.
Mit besorgt gerunzelter Stirn stand Grace auf und ging zu Allie hinüber. “Was ist los, Allie? Ist es wegen Clay?”
Allie wünschte, sie hätte ihre unberechenbaren Gefühle besser unter Kontrolle. Mit dem Handrücken
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