Totgeglaubt
auf Clays Küchentresen auf. Den ganzen Tag schon hatte Allie sie immer wieder hervorgeholt, aber trotzdem verursachte ihr der Anblick der Bilder immer noch Übelkeit.
Trotzdem bemühte sie sich, Madeline mit ruhiger Stimme zu antworten. “Es geht mir gut.”
“Dabei müsstest du doch todunglücklich sein.”
Allie schlang die Arme um sich. Madeline hatte keine Ahnung. Aber natürlich bezog sie sich nicht auf die Fotos; es war mehr als wahrscheinlich, dass sie nicht einmal von deren Existenz wusste. Sie sprach von dem Skandal um Allies Vater.
In typischer Stillwater-Manier schwappte das Gerücht wie eine riesige Flutwelle durch die Stadt, und Allie fühlte sich so beschämt und gedemütigt wie noch nie. Und wenn sie an ihren Vater dachte, dort in dem Raum mit Irene, dann verspürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust.
Aber die Fotos … Sie waren unerträglicher als alles, was man sich überhaupt nur vorstellen konnte. Sie hatten sie so geschockt, dass sie nicht einmal wusste, wie sie ihre Verabredung mit Grace einhalten sollte. Was sollte sie Clays Schwester sagen? Sollte sie die Vergewaltigungen ansprechen? Sollte sie ihr von den Fotos erzählen?
“Es ist nicht leicht”, sagte sie ins Telefon. “Aber … irgendwie werden meine Mutter und ich schon damit fertig werden.”
Wie hatte Grace das nur überlebt? Wie war die Familie damit fertig geworden?
“Ich muss gestehen, ich habe geahnt, dass Mom sich mit jemandem trifft. Sie war seit … na, seit einigen Monaten … so geheimnistuerisch. Aber ich hätte mir nicht träumen lassen …” Anstatt den Satz zu beenden, nahm Madeline einen neuen Anlauf. “Ich meine, ich fühle mich ein bisschen mitschuldig. Zumindest beschämt. Ich wollte mich bei dir entschuldigen.”
Allie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber es gelang ihr nur mit großer Mühe. Ihre Gedanken waren zu Barkers Bibel und der sogenannten “Liebe” abgedriftet, die er für seine Stieftochter empfand. Aber von Liebe konnte da wohl nicht die Rede sein. Eher von grauenhaftester sexueller Obsession.
“Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen, Maddy”, sagte sie. “Ich weiß doch, dass du nicht verantwortlich bist für die Taten deines Vaters, ich meine …”, sie räusperte sich, “… deiner Stiefmutter.”
Allies Versprecher schien Maddy ein wenig zu verstören, aber sie ging nicht näher darauf ein. “Ich wusste es nicht, das schwöre ich dir.”
“Und Clay?”, fragte Allie und blickte durch dessen Küchenfenster hinaus auf die Scheune.
“Ich bezweifle es.”
Allie schaute sich wieder in der Küche um. Sie hatte das Stück Pappe, mit dem sie das zerbrochene Kellerfenster abgedeckt hatten, wieder herausnehmen müssen, um ins Haus zu gelangen. Aber es war den Aufwand wert gewesen, denn jetzt hatte sie einen stillen Ort, an dem sie so schnell niemand stören würde. Ihre Mutter weigerte sich, Dales Anrufe entgegenzunehmen oder auch nur über den Vorfall zu sprechen. Sie konzentrierte stattdessen ihre ganze Aufmerksamkeit auf Whitney. Auf diese Art versuchte Evelyn, den Schmerz von sich fernzuhalten, dem sie sich früher oder später aber würde stellen müssen, um darüber hinwegzukommen.
Und dann war da noch Joe. Allie befürchtete, dass er, trotz der gestiegenen Chancen auf einen neuen Durchsuchungsbefehl, heute Nacht wieder zur Farm fahren würde, um endlich zu finden, wonach er suchte. Clays Abwesenheit war zu verlockend, als dass Joe sie ungenutzt verstreichen lassen würde.
“Ich bin mir sicher, dass Grace es auch nicht gewusst hat”, fuhr Madeline fort. “Das hätte sie mir sonst erzählt.”
Allie griff nach einem Foto, das Grace als Zwölf- oder Dreizehnjährige zeigte. Sie konnte nicht erkennen, wo es aufgenommen worden war, aber Grace war nackt, ihre Arme und Beine ausgestreckt und ihre Hand- und Fußgelenke gefesselt. Ein anderes Foto zeigte Barker mit dem Mund zwischen ihren Beinen. Er hielt seinen Kopf schräg, als hätte er selbst die Kamera gehalten.
Ja klar!
Grace hätte Maddy ganz bestimmt sofort über die Affäre ihrer Mutter informiert, dachte Allie sarkastisch.
Allie unterdrückte einen Seufzer und schüttelte den Kopf. Madeline hatte keine Ahnung. Die Montgomerys liebten sie und behandelten sie wie eine Tochter und Schwester. Aber ihre Geheimnisse behielten sie für sich.
Und den Grund dafür hatte sie vor Augen. Die Fotos waren von einer solchen Obszönität und Verderbtheit, dass Allie sich überwinden musste, sie überhaupt in
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