Totgeglaubt
verschwundenen Stiefvater kursierten.
“War der Anrufer ein Mann oder eine Frau?”
“Eine Frau. Und es klang verdammt echt. Sie schien ziemlich in Panik zu sein, jedenfalls konnte ich sie kaum verstehen. Und dann wurde die Verbindung plötzlich unterbrochen.”
Shit.
Egal wie skeptisch sie eben noch gewesen war – das hörte sich nicht gut an. “Ich kann in weniger als fünf Minuten dort sein.” Allie trat aufs Gaspedal und raste die Straße entlang.
“Soll ich Hendricks als Verstärkung schicken?”, hörte sie die Frau aus der Notrufzentrale durchs Funkgerät fragen.
Allie hatte zwar schon mit fixeren Kollegen zusammengearbeitet als mit dem, der gerade Nachtschicht hatte, aber im Zweifelsfall war es sicher besser, ihn als keinen dabeizuhaben. “Versuchen Sie es, aber wahrscheinlich schläft er tief und fest. Als ich vor einer Stunde auf dem Revier war, hätte ihn nicht mal ein Erdbeben aufgeweckt.”
“Ich könnte Ihren Vater zu Hause anrufen.”
“Nein, stören Sie ihn nicht. Wenn Sie Hendricks nicht an den Apparat kriegen, dann erledige ich das allein.” Allie beendete das Gespräch und schaltete das Blaulicht an. Die Sirene aktivierte sie jedoch erst, als sie sich der Farm näherte, um der panischen Anruferin zu signalisieren, dass Hilfe nahte. Vorher hätte der durchdringende Heulton nur ihre eigenen Nerven strapaziert. Sie fühlte sich noch nicht hundertprozentig wohl in ihrem neuen Job als Streifenpolizistin – als wäre sie zu eingerostet dafür. Als Detective in Chicago hatte sie die letzten sieben Jahre hauptsächlich im Büro verbracht, die letzten fünf in der Abteilung für ungelöste, zu den Akten gelegte Verbrechen. Aber ihre Scheidung, die Rückkehr zu ihren Eltern nach Stillwater und ihre Rolle als alleinerziehende Mutter hatten Opfer gefordert. Dass sie jetzt wieder auf der Straße Streife fuhr, war eines davon.
Die ersten Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe, als Allie die Pine Road hinunterraste und mit quietschenden Reifen nach links auf den Highway abbog. Der Frühling war verregnet gewesen, aber immer noch besser als die Schwüle, die sich mit dem nahenden Juni ankündigte.
Allie starrte konzentriert auf die glänzende Straße und ignorierte das schnelle Quietschen der Scheibenwischer, die nicht halb so schnell hin- und herschlugen wie ihr Herz. “Was treiben Sie da, Mr. Montgomery?”, murmelte sie vor sich hin. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er tatsächlich versuchte, jemanden umzubringen. Bis auf gelegentliche Schlägereien gab es in Stillwater so gut wie keine Gewalttätigkeiten. Und Clay war ein Eigenbrötler. Aber auch Allie fühlte sich etwas nervös in seiner Gegenwart, wie offenbar alle anderen Einwohner der Stadt. Und das Verschwinden von Reverend Barker, an das sie sich noch sehr gut erinnerte, war tatsächlich höchst dubios. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein so angesehener Bürger, der geistige Führer der Gemeinde, einfach so davongefahren war, ohne seine Koffer zu packen oder Geld von seinem Konto abzuheben. So etwas tat man einfach nicht ohne guten Grund. Und was für einen Grund – ob guten oder schlechten – hätte Barker haben können, um mir nichts dir nichts seine Farm zu verlassen?
Falls er noch lebte, hätte inzwischen wohl irgendjemand etwas von ihm gehört. Schließlich wohnte immer noch ein Großteil seiner Familie im Ort: seine Frau, seine Tochter, zwei Stieftöchter, ein Stiefsohn, eine Schwester, ein Schwager und zwei Neffen.
Barkers Tochter Madeline, die genau wie Clay vierunddreißig war – ein Jahr älter als Allie –, war der festen Überzeugung, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Und genauso fest war sie davon überzeugt, dass ihre Stiefmutter, ihre Stiefschwestern und ihr Stiefbruder nichts mit der Sache zu tun hatten.
Das sah tatsächlich nach einem vertrackten Fall aus, und Allie war wild entschlossen, ihn aufzuklären. Zur eigenen Befriedigung. Für Madeline, ihre Freundin aus Kindheitstagen. Für Barkers Neffen Joe, der sie mindestens ebenso wie Madeline drängte, den Fall zu lösen. Für ganz Stillwater.
Der Kies spritzte zur Seite, als Allie in die lange Auffahrt der Farm einbog. Sie stellte fest, dass das Anwesen sehr viel gepflegter aussah als zu Reverend Barkers Zeiten. Der Schrott, den er überall aufgetürmt hatte – verrostete Haushaltsgeräte, zerschlissene Autoreifen, Alteisen –, war verschwunden, und das Wohnhaus und die Nutzgebäude schienen in gutem Zustand zu sein.
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