Totgeglaubt
noch erhaltene Satzfragment reichte aus, um Allies Erinnerung wachzurütteln. Sie wusste plötzlich, wer die Frau auf dem Foto war: Es war Eliza Barker, die erste Frau des Reverends.
Allie versuchte, durch das Bild hindurch die Schrift auf der Rückseite zu erkennen. Es war eine Einladung zu einer Weihnachtsfeier der Kirche. Vom Datum her war es wahrscheinlich die letzte Weihnachtsfeier, die Eliza erlebt hatte. Sie hatte Selbstmord begangen. Drei Jahre später hatte Lee Barker Irene Montgomery geheiratet. Allie hatte Eliza als sanfte, leise Frau in Erinnerung, die unermüdlich im Dienste der Gemeinde ihres Mannes tätig war. Trotzdem kam ihr Selbstmord nicht völlig überraschend. Es war allgemein bekannt, dass Eliza an Depressionen litt. Sie hatte sogar versucht, eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen, um anderen Betroffenen zu helfen.
Ihr Foto an so exponierter Stelle in Jeds Haus zu entdecken, weckte Allies Neugierde. War Jed für Eliza mehr als nur ein Gemeindemitglied gewesen? Allie glaubte es nicht. Falls sie tatsächlich in engerer Beziehung gestanden hatten – als gute Freunde oder sogar als Geliebte –, dann hätte Jed sicher ein richtiges Foto von ihr aufgestellt und nicht das Programm einer Weihnachtsfeier.
War er unsterblich und unglücklich in sie verliebt gewesen?
Allies Konzentration auf diese Frage wurde plötzlich von der Stille, die sie umgab, gebrochen. Sie fühlte das Gewicht von Jeds bohrendem Blick in ihrem Rücken und drehte sich um. Er stand in der Zimmertür.
Sie stellte das Foto auf den staubigen Beistelltisch und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab. “Braucht jemand draußen auf der Straße Ihre Hilfe?”
Sein Gesicht war rot – sie wusste nicht, ob vor Scham oder vor Wut. “Ja”, sagte er. “Ich muss los.”
“Kein Problem.” Allie ging zur Tür.
“Kommen Sie nie wieder hierher, es sei denn, Sie haben einen offiziellen Durchsuchungsbefehl.”
Allie nickte stumm. Sie fühlte sich unwohl in diesem Haus. Es zog sie zu ihrem Streifenwagen und zu angenehmeren Zeugen, Freunden und Nachbarn des Reverends. Aber sie hatte noch eine letzte Frage: “Könnten Sie mir sagen, warum Sie dieses Weihnachtsprogramm aufbewahrt haben?”
“Ich hab es damals in der Kirche bekommen, wie alle Gemeindemitglieder”, antwortete er.
“Verstehe”, murmelte Allie. Aber sie wettete, dass er der Einzige war, der Barker aus dem Foto herausgerissen und den Rest gerahmt hatte.
9. KAPITEL
C lay lag mit zitternden Muskeln auf der Hantelbank, legte aber trotzdem noch weitere Gewichte auf. Um überhaupt mal in einen Zustand der inneren Ruhe zu gelangen, trieb er sich an manchen Tagen fast bis zur Besinnungslosigkeit an. Deshalb hatte er im Keller einen Raum für sein Krafttraining eingerichtet.
Heute war ein solcher Tag. Nach seiner Konfrontation mit Chief McCormick und der anschließenden Diskussion mit Reverend Portenski sehnte er sich nach einem Erschöpfungszustand, der ihn all das vergessen ließ.
Sein Körper flehte um eine Pause. Doch er wollte noch nicht aufhören. Notfalls konnte er sich immer noch Allie in ihrer hübschen Bluse in der Kirche vor Augen führen und das verführerische Lächeln, das sie aufgesetzt hatte, als er sagte, er sei nicht so billig zu haben, wie sie vielleicht dächte.
Er hoffte, durch eine Annäherung an Allie zumindest ansatzweise steuern zu können, was sie über Barker herausfand und wie sie es interpretierte. Zumindest würde er über den jeweiligen Ermittlungsstand Bescheid wissen. Der Nutzen einer solchen Annäherung für
ihn
war klar. Aber er wusste nicht, was er
ihr
bieten konnte. Es sei denn, sie wollte sich einfach nur amüsieren. Clay wusste, dass Frauen ihn ihm Bett schätzten. Das Problem: Allie war nicht wie Beth Ann oder die anderen, die ihm unerbittlich nachstellten. Clay war sich nicht einmal sicher, ob er sie verführen könnte, wenn er es bewusst darauf anlegte. Allie war immer schon sehr zielstrebig und unbeirrbar gewesen.
Ich war bislang nur mit meinem Exmann zusammen.
Eins … zwei … drei … Er sog die Luft mit zusammengebissenen Zähnen ein und senkte die Gewichte vorsichtig bis auf Brusthöhe. Er war unvernünftig; eigentlich durfte man sich in diesem Maße nur mit einem Partner verausgaben, der im Notfall eingreifen konnte. Aber daran wollte Clay jetzt nicht denken. Er trainierte lieber alleine, so wie er fast alles alleine machte.
Das Gewicht berührte kurz seine Brust. Er biss die Zähne zusammen und trieb sich weiter
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