Totgeglaubt
sehr wahrscheinlich. Die alte Mrs. Fowler war so streng und fordernd gewesen, dass er sich vermutlich nicht getraut hatte, eine Frau mit nach Hause zu bringen. Die Geschichten, die man sich von ihr erzählte, waren allesamt ein wenig unheimlich. Allie erinnerte sich daran, dass Freunde von ihr eines Nachts auf dem Nachhauseweg von einer Party von Mrs. Fowler erschreckt worden waren. Bei klirrender Winterkälte hatte sie, eingehüllt in Decken und Mäntel, auf der Veranda gesessen und mit einem Gewehr gefuchtelt und es auf jeden gerichtet, der das Haus auch nur anschaute.
Kein Wunder, dass Jed seltsam ist, dachte Allie.
Sie erreichte die Veranda und hob eine Hand, um zu klopfen. Doch die Tür öffnete sich, bevor sie sie nur berührte, und Jeds große Nase erschien im Türspalt.
“Mr. Fowler?”
Er gab ein Geräusch von sich, das eine Antwort sein mochte, doch die Tür öffnete er nicht weiter.
In der Hoffnung, ihn mit einem höflichen Lächeln zu gewinnen, kam Allie noch näher. “Dürfte ich kurz mit Ihnen sprechen?”
Er warf einen Blick über seine Schulter, so als suchte er nach einer Entschuldigung, es ihr zu verwehren.
“Wir können gerne auch hier draußen reden, wenn Sie das möchten.”
Er zupfte an der roten Baseballkappe, die sie ihn schon in der Stadt hatte tragen sehen, trat heraus und lehnte die Tür an. Weil er sie offensichtlich nicht hereinbitten wollte, nahm Allie an, dass das Haus für Besuch nicht genügend aufgeräumt war. Allerdings war zumindest durch den Türspalt keine besondere Unordnung zu erkennen.
“Sie können sich wahrscheinlich schon denken, weshalb ich hier bin.”
Der finstere Blick unter den buschigen Augenbrauen war verschwunden. Jetzt starrte er sie einfach nur an. “Nein, Ma’am.”
“Ich würde mit Ihnen gern über Lee Barker sprechen.”
Seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen. “Rollen Sie den Fall wieder auf?”
“Nein. Nicht offiziell. Ich versuche nur, Madeline zu helfen.”
“Sie wollen ihr helfen?”, fragte er.
“Richtig.”
“Indem Sie herausfinden, was mit ihrem Vater passiert ist.”
“Ja. Bevor ich nach Stillwater zurückkam, habe ich alte ungelöste Kriminalfälle aufgeklärt”, erklärte Allie. “Vielleicht kann ich zu den früheren Ermittlungen im Fall Barker noch etwas Neues beisteuern. Hoffe ich zumindest. Madeline verdient es, zu erfahren, was passiert ist, finden Sie nicht?”
Allie hätte nicht genau sagen können, welche Reaktion sie erwartet hatte, ganz sicher jedoch nicht diese.
“Die ist ohne ihren Vater besser dran, wenn Sie mich fragen.”
“Was haben Sie gesagt?” Allie hatte ihn kaum verstanden, so sehr hatte er genuschelt.
Er zog seine Kappe tiefer ins Gesicht. “Nichts.”
“Mochten Sie Reverend Barker nicht?” Bis ein paar Jahre vor Barkers Verschwinden hatte Jed regelmäßig dessen Gottesdienst besucht. Aber eines Tages war er mitten in der Messe aufgestanden, hinausgegangen und nie zurückgekehrt. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter in der Gemeinde einen richtigen Glaubensfeldzug gestartet hatte, um ihn zurückzugewinnen, aber ohne Erfolg. Jed hatte nie wieder einen Fuß in die Kirche gesetzt.
“Kann nicht sagen, dass ich ihn gemocht hab.”
“Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann erzählen Sie mir doch bitte, warum nicht.”
“Das ist doch jetzt egal. Er ist weg.”
“Es könnte sehr wohl noch von Bedeutung sein”, sagte sie. Da er freiwillig aber offenbar nichts preisgeben würde, griff sie auf die Fragen zurück, die sie sich zurechtgelegt hatte. “Sie haben in der Nacht seines Verschwindens in der Scheune den Traktor repariert. Stimmt das?”
Als Antwort begnügte sich Jed mit einem fast unmerklichen Nicken.
“Sie haben damals ausgesagt, dass Barker in der Nacht nicht mehr zu seiner Farm zurückgekehrt ist.”
Kein Kommentar.
“Stimmt das?”, hakte sie nach.
“Ja, Ma’am.”
“Hätten Sie ihn denn gesehen oder zumindest sein Auto gehört, wenn er zurückgekommen wäre?”
“Schwer zu sagen.”
“Sie hatten das Radio angeschaltet, stimmt’s?”
“Richtig.”
“Hatten Sie es lauter aufgedreht als sonst in Ihrer Werkstatt?”
Jed hörte immer einen bestimmten Countrymusic-Sender, das wusste Allie.
“Kann sein. Es waren ja nur die Kinder zu Hause, ich konnte also niemanden stören.”
“Die Kinder?”
“Die Montgomery-Mädchen.”
“Irene war nicht zu Hause? Clay auch nicht?” Das wusste sie natürlich längst, sie hatte ja die Aussagen gelesen. Aber sie
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