Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
hunderte andere, die ich schon gesehen hatte, ob sie nun aus einem Acker, einem flachen Grab oder einer Baustelle stammten.
Ich stellte den Schädel auf einen Stabilisator-Ring aus Kork, fügte den Unterkiefer hinzu und starrte das fleischlose Gesicht an.
Wie hatte es im Leben ausgesehen? Wem hatte es gehört?
Nichts. Nicht einmal Spekulationen.
Vierzig Minuten später lag das Skelett anatomisch korrekt angeordnet auf meinem Tisch. Nichts fehlte außer einem winzigen Knochen, dem so genannten Zungenbein, und ein paar Finger- und Zehengliedern.
Ich steckte eben ein Fallformular auf ein Klemmbrett, als mein Telefon klingelte. Es war Ryan.
Ich erzählte ihm von meinem Vormittag.
»Heiliger Bimbam.«
»Vielleicht«, sagte ich.
»Ferris und Lerner glaubten daran.«
»Morissonneau war sich nicht so sicher.«
»Und was glaubst du?«
»Ich fange eben mit meiner Untersuchung an.«
»Und?«
»Ich fange eben mit meiner Untersuchung an.«
»Mein Arsch gehört nicht mir, bis diese Überwachung abgeschlossen ist. Aber ich habe heute Vormittag einen Anruf erhalten. Kann sein, dass ich bei dem Ferris-Mord auf eine heiße Spur gestoßen bin.«
»Im Ernst?«, fragte ich.
»Sobald ich das hier hinter mir habe, gehe ich der Sache nach.«
»Was ist das für eine Spur?«
»Sobald ich das hier hinter mir habe, gehe ich der Sache nach.«
»Touché.«
»Verdammt, sind wir professionell.«
»Bei uns gibt’s keine unbekümmerten Spekulationen«, stimmte ich ihm zu.
»Nirgendwo überhastete Schlussfolgerungen in Sicht.«
Nach dem Anruf fuhr ich schnell in die Cafeteria im ersten Stock, verschlang ein Thunfisch-Sandwich und eine Diet Coke und kehrte dann sofort ins Labor zurück.
Am liebsten hätte ich mich unverzüglich auf die Schlüsselfrage gestürzt. Aber ich zwang mich, die vorgeschriebene Verfahrensweise einzuhalten.
Gummihandschuhe.
Licht.
Fallformular.
Tief durchatmen.
Ich fing mit dem Geschlecht an.
Becken: schmale Einbuchtung zwischen der hinteren Sitz- und Darmbeinkante, schmaler Beckeneingang, kräftige Schambeine, die sich vorne zu umgedreht v-förmigen Wülsten verdickten.
Schädel: vorstehende Brauenwülste, stumpfe Orbitalränder, große Knochenleisten, Muskelansätze und Warzenfortsätze.
Kein Zweifel. Das Skelett war durch und durch Knabe.
Ich wandte mich dem Alter zu.
Ich stellte meine Lampe schräg und betrachtete die linke Beckenhälfte an der Stelle, wo sie sich im Leben mit der rechten Hälfte getroffen hatte. Die Oberfläche war mit winzigen Vertiefungen übersät und im Verhältnis zur Höhe eines ovalen Wulstes am äußeren Rand leicht vertieft. Stachelförmige Auswüchse standen vom oberen und unteren Rand des Wulstes ab.
Die rechte Schambeinfuge sah genauso aus.
Ich stand auf und ging zum Wasserspender.
Ich trank einen Schluck.
Ich atmete einmal durch.
Etwas ruhiger kehrte ich zu dem Skelett zurück und suchte mir die Rippen drei bis fünf von beiden Seiten des Brustkorbs ans. Nur zwei hatten noch unbeschädigte Brustbeinenden. Ich legte die anderen beiseite und betrachte diese beiden eingehender.
Beide Rippen endeten in ausgeprägten u-förmigen Vertiefungen, umgeben von dünnen Wänden, die in scharfkantige Wülste ausliefen. Winzige Knochenstacheln standen von den oberen und unteren Rändern der Wülste ab.
Ich lehnte mich zurück und legte den Bleistift weg.
Was empfand ich? Erleichterung? Enttäuschung? Ich war mir nicht sicher.
Die Schambeinfugen entsprachen der Phase sechs des Suchey-Brooks-Altersbestimmungssystems, einem Set von Standards, das anhand der Untersuchung der Becken von hunderten von Erwachsenen mit dokumentiertem Alter beim Todeszeitpunkt ermittelt wurde. Für Männer deutet Phase sechs auf ein Alter von etwa einundsechzig hin.
Die Rippen entsprachen der Phase sechs des Iscan-Loth-Altersbestimmungssystems, einem Set von Standards, das auf der Quantifikation morphologischer Veränderungen von Rippen beruht, die bei Autopsien von Erwachsenen gesammelt wurden. Für Männer deutet diese Phase auf ein Alter zwischen dreiundvierzig und fünfundfünfzig hin.
Zugegeben, die Wesen mit Y-Chromosomen zeigen einen enormen Variantenreichtum. Zugegeben, die Röhrenknochen und die Wurzeln der Backenzähne musste ich erst noch radiologisch untersuchen. Dennoch war ich mir sicher, dass meine vorläufige Schlussfolgerung Bestand haben würde. Ich schrieb sie in mein Fallformular.
Alter zum Todeszeitpunkt: vierzig bis sechzig Jahre.
Auf gar keinen Fall war dieser
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