Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
Lerner gestohlen wurde.«
»Ja.«
»Wie lange haben Sie es schon?«
»Zu lange.«
»Sie haben versprochen, es für Avram Ferris aufzubewahren?«
Knappes Nicken.
»Warum?«
»So viele ›Warums‹. Warum wollte Avram unbedingt, dass ich es nehme? Warum habe ich mich einverstanden erklärt? Warum habe ich mit dieser gemeinsamen Unredlichkeit weitergemacht?«
»Fangen Sie mit Ferris an.«
»Avram nahm Yossi das Skelett aus Loyalität ab und weil Yossi ihn davon überzeugte, dass seine Wiederentdeckung katastrophale Ereignisse auslösen würde. Nachdem Avram die Knochen nach Kanada gebracht hatte, versteckte er sie einige Jahre in seinem Lagerhaus. Mit der Zeit wurde ihm die Sache jedoch mulmig. Mehr als das. Er entwickelte deswegen eine richtige Besessenheit.«
»Warum?«
»Avram ist Jude. Das sind die Überreste eines menschlichen Wesens.« Morissonneau strich über die Kiste. »Und …«
Morissonneau riss den Kopf hoch. Licht spiegelte sich in einem Brillenglas.
»Wer da?«
Ich hörte leises Stoffrascheln.
»Frère Marc?« Morissonneaus Stimme klang scharf.
Ich drehte mich um. In der offenen Tür stand eine Gestalt. Der Mönch mit dem Narbengesicht legte den Zeigefinger an die Lippen und hob seine gesunde Braue.
Morissonneau schüttelte den Kopf. »Laissez-nous.« Lassen Sie uns in Ruhe.
Der Mönch verbeugte sich und ging wieder.
Morissonneau erhob sich, durchquerte das Büro und schloss die Tür ab.
»Avram wurde die Sache mulmig«, wiederholte ich seine Aussage, als er sich wieder gesetzt hatte.
»Er glaubte, was Yossi glaubte.« Mit gedämpfter Stimme.
»Dass es das Skelett von Jesus Christus ist.«
Morissonneaus Blick huschte kurz zu dem Gemälde und senkte sich dann wieder. Er nickte.
»Haben Sie das auch geglaubt?«
»Es geglaubt? Nein, geglaubt habe ich es nicht, aber ich wusste es auch nicht sicher. Weiß es noch immer nicht. Aber ich konnte das Risiko nicht eingehen. Was, wenn Yossi und Avram Recht hatten? Und Jesus nicht am Kreuz gestorben war? Das wäre das Totengeläut für das Christentum.«
»Es würde das fundamentalste Dogma des Glaubens untergraben.«
»Genau dieses. Der christliche Glaube gründet sich auf der Prämisse vom Tod und der Auferstehung unseres Retters. Der Glaube an die Leidensgeschichte ist Dreh- und Angelpunkt eines Glaubens, nach dem eine Milliarde Menschen ihr Leben ausrichten. Eine Milliarde Menschen, Dr. Brennan. Die Konsequenzen einer Zersetzung dieses Glaubens wären unvorstellbar.«
Morissonneau schloss die Augen und stellte sich, wie ich vermutete, genau diese unvorstellbaren Konsequenzen vor. Als er sie wieder öffnete, klang seine Stimme kräftiger.
»Avram und Yossi hatten sich wahrscheinlich geirrt. Ich glaube nicht, dass dies die Knochen Jesu Christi sind. Aber was, wenn die Presse Wind von der Geschichte bekommen hätte? Was, wenn der Sündenpfuhl, den die heutigen Massenmedien darstellen, eins seiner Ekel erregenden Spektakel inszeniert hätte und diese Leute ihre Seele für höhere Einschaltquoten verkauft hätten? Die darauf folgende Kontroverse wäre allein schon eine Katastrophe.«
Er wartete nicht auf eine Erwiderung.
»Ich sage Ihnen, was passieren würde. Eine Milliarde Menschen würden ihre Orientierung und ihren Lebensmittelpunkt verlieren. Der Glaube würde zerrüttet werden. Spirituelle Verwüstungen wären allgegenwärtig. Die christliche Welt würde in eine Krise stürzen. Aber damit wäre es noch nicht zu Ende, Dr. Brennan. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, das Christentum ist auch eine mächtige politische und ökonomische Macht. Ein Zusammenbruch der christlichen Kirche würde zu globalen Umwälzungen führen. Zu Instabilität. Und weltweitem Chaos.«
Morissonneau stieß mit dem Zeigefinger in die Luft.
»Die westliche Zivilisation würde entwurzelt werden. Damals glaubte ich das. Und ich glaube es jetzt, da islamische Extremisten ihre neue Variante des religiösen Fanatismus in die politische Arena werfen, noch leidenschaftlicher.«
Er beugte sich vor.
»Ich bin Katholik, aber ich habe den muslimischen Glauben studiert. Und ich habe die Entwicklungen im Mittleren Osten sehr intensiv verfolgt. Sogar damals schon sah ich die Unruhen und wusste, dass uns eine Krise bevorsteht. Erinnern Sie sich noch an die Olympischen Spiele in München?«
»Palästinensische Terroristen kidnappten einen Teil des israelischen Teams. Alle elf Sportler wurden umgebracht.«
»Die Kidnapper waren Mitglieder einer PLO-Fraktion mit dem Namen
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