Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
für mich. Ich habe um die Entscheidung gerungen. Ich ringe jeden Tag damit.«
»Aber Sie erklärten sich bereit, das Skelett zu verstecken.«
»Ich war noch jung, als dies alles anfing. Gott möge mir verzeihen. Ich betrachtete es als eine der notwendigen Täuschungen unserer Zeit. Doch als dann die Zeit verging und niemand, auch das Museum nicht, Interesse an den Knochen zu haben schien, hielt ich es für das Beste, sie dort zu lassen, wo sie waren.«
Morissonneau stand auf.
»Aber jetzt ist es genug. Ein Mann ist tot. Ein anständiger Mann. Ein Freund. Vielleicht aus keinem anderen Grund als wegen einer Kiste mit alten Knochen und einer irrsinnigen Theorie in einem verrückten Buch.«
Auch ich stand auf.
»Ich hoffe, Sie werden alles in Ihrer Macht Stehende tun, um diese Angelegenheit vertraulich zu behandeln«, sagte Morissonneau.
»Ich bin nicht gerade bekannt für mein freundschaftliches Verhältnis zur Presse.«
»Das habe ich gehört.«
Anscheinend machte ich ein überraschtes Gesicht.
»Ich habe einen Anruf getätigt.«
Morissonneaus Leben war also doch nicht so weitab gewandt.
»Ich werde mich mit den israelischen Behörden in Verbindung setzen«, sagte ich. »Es ist wahrscheinlich, dass sie die Knochen zurückerhalten werden, und ich bezweifle stark, dass sie eine Pressekonferenz abhalten werden.«
»Was jetzt passiert, liegt in Gottes Händen.«
Ich nahm die Kiste vom Tisch. Der Inhalt klapperte leise.
»Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Morissonneau.
»Das werde ich.«
»Vielen Dank.«
»Ich werde versuchen, Ihren Namen aus der Geschichte herauszuhalten, Vater. Aber ich kann nicht garantieren, dass das möglich sein wird.«
Morissonneau setzte zum Sprechen an. Doch dann schloss sich sein Mund wieder, und er ließ weitere Erklärungen oder Rechtfertigungen sein.
12
Zehn Prozent über der Höchstgeschwindigkeit ist die Toleranzgrenze, lautet die Faustregel. Ich hatte es so eilig, dass ich die Marge deutlich überschritt, allerdings auch das Glück, dass das Auge des Gesetzes gerade auf eine andere Straße gerichtet war.
Als ich am Wilfrid Derome ankam, parkte ich auf dem für Polizisten reservierten Platz. Es war Samstag, und es konnte ja immerhin sein, dass ich Gott in meinem Mazda hatte.
Die Temperatur war knapp über den Gefrierpunkt gestiegen, und der vorhergesagte Schneefall hatte als Nieselregen begonnen. Schmutzige Schneehaufen schmolzen, verliefen sich in Rissen und Spalten und bildeten auf dem Bürgersteig und am Bordstein Pfützen.
Ich öffnete den Kofferraum, holte Morissonneaus Kiste heraus und eilte nach drinnen. Bis auf die Wachmänner war die Eingangshalle verlassen.
Der zwölfte Stock ebenfalls.
Ich stellte die Kiste auf meinen Arbeitstisch, zog meine Jacke aus und rief Ryan an.
Keine Antwort.
Jake anrufen?
Zuerst die Knochen.
Mein Herz klopfte, als ich einen Labormantel überzog.
Warum? Glaubte ich wirklich, dass ich das Skelett Jesu vor mir hatte?
Natürlich nicht.
Aber wer war das dann in dieser Kiste?
Jemand hatte gewollt, dass diese Knochen Israel verließen. Lerner hatte sie gestohlen. Ferris hatte sie transportiert und versteckt. Morissonneau hatte ihretwegen gelogen, gegen sein Gewissen.
War Ferris ihretwegen gestorben?
Religiöser Eifer bringt obsessive Handlungen hervor. Ob diese Handlungen rational oder irrational sind, hängt vom Blickwinkel ab. Das wusste ich. Aber warum all diese Intrigen? Warum die Obsession, sie zu verstecken? Warum sie nicht einfach zerstören?
Hatte Morissonneau Recht? Würden Jihadisten wirklich töten, um diese Knochen in die Hände zu bekommen? Oder wütete der gute Vater einfach nur gegen religiöse oder politische Philosophien, die er als Bedrohungen für die eigene betrachtete?
Keine Ahnung. Aber ich hatte vor, Antworten auf diese Fragen so intensiv zu suchen, wie ich nur konnte.
Ich holte mir aus der Abstellkammer einen Hammer.
Das Holz war trocken. Die Nägel waren alt. Splitter flogen, als ich sie herauszog.
Schließlich lagen sechzehn Nägel neben der Kiste. Ich legte den Hammer weg und hob den Deckel an.
Staub. Trockene Knochen. Gerüche, die so alt waren wie das erste Wirbeltierfossil.
Die langen Knochen lagen unten auf dem Boden, parallel zueinander, die Kniescheiben und Hände und Füße zwischen ihnen verstreut. Der Rest bildete eine mittlere Schicht. Obendrauf lag, mit abgetrenntem Unterkiefer, der Schädel, und leere Augenhöhlen starrten himmelwärts. Das Skelett sah aus wie
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