Totgesagt
sagte ich leise. Der Wind schwoll für einen Augenblick an und trug meine Worte fort. »Ich habe aber viel an dich gedacht.«
Ein paar Blätter fielen vom Himmel herab aufs Grab. Als ich hochschaute, hüpfte an einem der Bäume ein Vogel über einen Ast. Der Ast schwankte leicht, tanzte unter dem Gewicht des Vogels auf und ab. Sekunden später verschwand das Tier, indem es hinabschoss und dann einen Bogen nach links beschrieb – hinauf in die Freiheit.
Ich kam über den Pfad zurück durch das Eingangstor, als ich jemanden über den Parkplatz gehen sah – weg von der Stelle, wo mein Wagen stand. Er sah aus wie ein Obdachloser. Seine Kleidung war dunkel und fleckig. Die offenen Schnürsenkel schlängelten sich hinter seinen Schuhen her. Als ich näher kam, warf er einen schnellen Blick in meine Richtung. Sein Gesicht lag im Schatten einer Kapuze, doch ich konnte ein funkelndes Augenpaar erkennen, in dem sich Überraschung abzeichnete – als hätte er mich nicht so schnell zurückerwartet.
Plötzlich lief er los.
Ich beschleunigte meine Schritte. Als das Auto in mein Blickfeld kam, bemerkte ich, dass ein Fenster auf der linken Seite eingeschlagen war und die linke Tür offen stand. Glasscherben glitzerten neben dem Reifen, und mein Notizblock, mein Mantel und eine Straßenkarte lagen auf dem Schotter.
»Hey!«, brüllte ich und begann ebenfalls zu laufen. Ich versuchte, ihm den Weg abzuschneiden, ehe er die Zufahrt erreichen konnte. Wieder warf er mir einen Blick zu, diesmal panisch.
»Was, zum Teufel, treiben Sie hier?«
Seine Kapuze blähte sich auf, als er noch schneller zu laufen begann. Dadurch konnte ich einen Blick auf sein Gesicht werfen. Schmutzig und hager. Ein Bart wucherte unkontrolliert von seinem Hals bis hinauf zur Oberkante seiner
Wangenknochen. Er sah aus wie ein Drogenabhängiger; nur Haut und Knochen.
»Hey!«, rief ich noch einmal, als ich endlich das Ende des Pfades erreichte und den Parkplatz betrat. Doch er war mir inzwischen ein ganzes Stück voraus und verschwand in der Dunkelheit an der Zufahrt zum Friedhof.
Ich sprintete hinter ihm her, hinaus auf die Hauptstraße. Als ich endlich dort ankam, sah ich ihn etwa fünfhundert Meter entfernt über den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite hetzen. Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, schaute er noch einmal zurück, um sicherzugehen, dass ich ihn nicht weiter verfolgte.
Dann verschwand er um eine Ecke.
Ich ging zurück auf den Parkplatz und unterzog meinen Wagen einer kurzen Überprüfung. Es war ein alter 3er BMW, den ich seit Jahren besaß. Kein CD-Player. Kein Navigationssystem. Kein Auto, das wertvoll genug gewesen wäre, es zu stehlen.
Doch er hatte den Wagen nicht stehlen wollen. Er war nur auf Bargeld aus gewesen.
Das Handschuhfach stand offen. Sein Inhalt lag größtenteils über die Vordersitze verstreut. Das Handbuch des Wagens war geöffnet und liegen gelassen worden; eine Tüte mit Süßigkeiten war aufgerissen worden. Im Auto hatten sich keine Wertgegenstände befunden, doch er war auf Nummer sicher gegangen und hatte alles durchwühlt. Und ich würde ein neues Fenster bezahlen müssen.
7
Ich erwachte um drei Uhr morgens vor dem stumm geschalteten Fernseher und zu den Klängen von Brian Enos An Ending (Ascent) , das leise auf der Stereoanlage lief. Ich beugte mich vor, schaltete den Fernseher aus und hörte eine Weile zu.
Derryn hatte mir immer wieder gesagt, mein Musikgeschmack wäre schrecklich und meine komplette Filmsammlung ein einziges Laster. Wahrscheinlich hatte sie mit beidem recht. Sozialverträglicher als bei An Ending konnte mein Geschmack wahrscheinlich nicht werden; einem Musikstück, das sogar sie wunderbar fand.
In der Gegend, in der ich aufgewachsen war, brachte man seine Tage entweder im Plattenladen zu oder im Kino. Ich hatte mich fürs Kino entschieden. Meine Eltern hatten Filme geliebt, und ich hatte diese Begeisterung von ihnen übernommen, wobei ich eine besondere Schwäche für Actionfilme entwickelte.
Ihre Musiksammlung stand immer noch in einer Ecke des Zimmers, in einem Pappkarton verpackt. Drei Wochen nach ihrem Tod hatte ich sie durchgesehen und dabei festgestellt, dass Musik den Filmen in einem Punkt überlegen war, nämlich in der erstaunlichen Fähigkeit, sich mit bestimmten Erinnerungen zu verbinden. An Ending war unser Stück für den späten Abend. Wir hatten es unmittelbar vor dem Zubettgehen gespielt, als Derryn nur noch wenige Wochen zu leben gehabt hatte. Als sie
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