Totgesagt
nichts anderes mehr wollte, als dass der Schmerz aufhörte.
Und dann, als der Schmerz schließlich vergangen war, strömte diese Musik bei ihrer Beerdigung aus den Lautsprechern in der Kirche.
Als das Stück zu Ende war, stand ich auf und ging in die Küche.
Aus dem Seitenfenster konnte ich ins Haus nebenan schauen. Im Arbeitszimmer brannte Licht, und die Rollos waren teilweise geöffnet. Liz, meine Nachbarin, saß tippend über ihren Laptop gebeugt. Aus dem Augenwinkel nahm sie meine Bewegung wahr, schaute auf, blinzelte und setzte ein Lächeln auf. Was machst du? , fragte sie stumm.
Ich rieb mir die Augen. Kann nicht schlafen.
Sie verzog das Gesicht zu einem bedauernden Oh!
Liz war eine zweiundvierzigjährige Anwältin, die ungefähr drei Wochen nach Derryns Tod eingezogen war. Sie hatte jung geheiratet, ein Kind bekommen und sich ein Jahr später scheiden lassen. Ihre Tochter war inzwischen im zweiten Jahr an der Universität in Warwick. Ich mochte Liz. Sie war witzig und kokett und hatte – obwohl ihr meine Situation bewusst war – mit ihren Gefühlen nicht hinter dem Berg gehalten. An manchen Tagen brauchte ich das. Ich wollte nicht in meiner Witwer-Rolle aufgehen. Ich wollte nicht, dass all der Schmerz, all die Wut und der Verlust sichtbar an mir klebten. Und die Wahrheit war, dass es, vor allem körperlich, sehr leicht war, Liz zu mögen: schlanke Kurven; schulterlanges, schokoladenbraunes Haar; dunkle, verschmitzte Augen und einzelne Sprenkel natürlicher Farbe auf ihren Wangen.
Sie stand vom Schreibtisch auf und schaute auf ihre Uhr. Sie tat, als müsse sie zweimal hinschauen, als sie die Uhrzeit registrierte. Kurz darauf nahm sie eine Kaffeetasse in die Hand und hielt sie hoch. Möchtest du eine? Sie rieb sich den Bauch. Er ist gut.
Ich lächelte wieder. Neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite, als wäre ich unentschlossen. Dann deutete ich auf meine eigene Uhr. Ich muss früh raus.
Sie verdrehte die Augen. Schlechte Ausrede.
Ich betrachtete sie, und etwas in mir geriet in Bewegung. Ein winziges Flattern der Erregung. Das Gefühl, dass, falls ich etwas von ihr wollte – die Erfahrung, wieder jemandem so nahe zu sein -, sie es mir geben würde. In ihren Augen sah ich, dass sie darauf wartete, dass ich mich von dem befreite, was mich zurückhielt.
Doch genauso, wie es Tage gab, an denen ich spüren musste, dass ich immer noch etwas anzubieten hatte, gab es andere, an denen ich mich noch nicht bereit fühlte, aus meiner Luftblase hinauszutreten. Ich wollte drinnen bleiben, geschützt durch die Wärme und Vertrautheit meiner Gefühle für Derryn. Die meiste Zeit, auch jetzt noch, hing ich zwischen beiden Impulsen fest. Ich wollte mich auf den Weg machen, war neugierig darauf, mich gehen zu lassen, schreckte aber vor den Nachwehen zurück. Davor, was am nächsten Morgen passierte, wenn man neben jemandem erwachte und es nicht der Mensch war, den man geliebt hatte, jeden Tag, vierzehn Jahre lang.
8
Am nächsten Morgen ließ ich zunächst mein Autofenster reparieren. Dann folgte ich Marys Bibliotheksspur und landete auf der Stelle in einer Sackgasse. Wenn Alex am Tag, als Mary ihn verfolgt hatte, dort tatsächlich aufgetaucht war, dann jedenfalls nicht wegen irgendwelcher Bücher. In den Computern fanden sich keine Aufzeichnungen über Ausleihvorgänge während der fünfzehn Minuten am fünften September, in denen er sich im Gebäude aufgehalten hatte. Sobald ich zurück in meinem Büro war, rief ich bei der Firma in Bristol an, für die er gearbeitet hatte. Doch meine
Nachfragen erwiesen sich als genauso fruchtlos, als würde man vor einem Raum voller Menschen reden, deren Sprache man nicht beherrschte. Sein Chef konnte sich an ihn erinnern; nicht gut allerdings. Und eine Handvoll Kollegen konnten mir nur vage beschreiben, was für ein Mensch er gewesen war.
Als Nächstes rief ich die Freunde an, mit denen er zusammengewohnt hatte. Mary hatte erzählt, dass sie mit John, einem seiner Freunde, nach Alex’ Verschwinden noch eine Weile in Kontakt gestanden hatte und dass die WG, soweit sie es wusste, immer noch in derselben Wohnung lebte wie damals. Sie hatte recht. Abgesehen von Alex waren sie zu dritt gewesen. Als ich anrief, war John bei der Arbeit. Der zweite, Simon, war schon lange ausgezogen. Der dritte schließlich, Jeff, war zu Hause, erschien aber ebenso ratlos angesichts Alex’ Schicksal wie alle anderen.
»Nun, wo kann ich denn die beiden anderen Jungs auftreiben?«,
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