Totgeschwiegen
unserem alten Haus, mit Madeline zu Abend essen und …”
“Über so etwas denke ich nicht nach”, unterbrach Molly sie.
Wie konnte sie
nicht
darüber nachdenken? Auch für Grace war es alles andere als einfach. Reverend Lee Barker war zwar tot. Aber obwohl sie mitgeholfen hatte, seine Leiche die Veranda hinunterzutragen, damit Clay sie in eine Schubkarre laden und verscharren konnte, hatte sie noch immer Angst, sie könnte eines Nachts aufwachen und ihren Stiefvater am Fenster entdecken.
“Madeline hofft noch immer, er könnte eines Tages zurückkommen”, fuhr Molly fort. “Aber wir beide wissen, dass er für immer verschwunden ist. Und das ist auch gut so. Die Welt ist besser dadurch geworden.”
“Amen”, stimmte Grace zu. “Aber leider ist sie dadurch nicht einfacher geworden.”
“Du musst die bösen Erinnerungen einfach loslassen.”
War das wirklich so leicht? Wie sollte das denn gehen? “Und was ist, wenn doch noch jemand herausfindet, was wirklich passiert ist? Heutzutage hört man doch ständig von alten Kriminalfällen, die neu aufgerollt werden. Jemand könnte seinen Wagen im Steinbruch finden oder ein Sturm könnte etwas Schreckliches zutage fördern oder ein Zeuge könnte auftauchen …”
“Beruhige dich. Das ist jetzt achtzehn
Jahre
her. Alles ist in bester Ordnung.”
“Die Leute hier werden das nie vergessen, Molly. Die haben diesen Mistkerl doch wie einen Heiligen verehrt. Sie kannten ihn ja nicht so wie wir.”
“Sie können nicht mal beweisen, dass er tot ist. Und dass man ohne Leiche nur schwer einen Mord beweisen kann, solltest du als Staatsanwältin doch am besten wissen.”
Solltest du doch am besten wissen …
Manchmal fand Molly genau die falschen Worte. Dass sie nach all den Jahren immer noch etwas Schreckliches zu verbergen hatten, bewirkte ja eben, dass Grace sich noch immer wie das hilflose Mädchen von damals fühlte und nicht wie die selbstbewusste erwachsene Frau, für die andere sie hielten. “Ich glaube, du solltest jetzt besser zur Arbeit gehen.”
“Wir sprechen später noch mal darüber.”
“Gut.” Grace legte auf und ging zum Fenster, um den Garten zu betrachten. Evonnes Familie schien sich nicht so hingebungsvoll um ihn zu kümmern, wie die Verstorbene es getan hatte, im Gegenteil: Es sah aus, als sei hier seit ihrem Tod überhaupt nichts mehr gemacht worden.
Das würde sich jetzt ändern.
Plötzlich bemerkte sie einen schwarzen Geländewagen in der Seitenstraße direkt hinter dem Zaun des Grundstücks.
“Ups …” Sie hüpfte vom Fenster weg. Hoffentlich hatte der Fahrer sie nicht halb nackt da stehen sehen. Gestern Abend hatte sie ein Tuch vor das Fenster gehängt, es aber mitten in der Nacht wieder weggenommen, damit die Luft besser zirkulieren konnte.
Wie konnte sie diesen peinlichen Fauxpas nur wieder ausbügeln? Grace überlegte fieberhaft, aber es war wohl eindeutig zu spät. Andererseits: Aus dieser Entfernung konnte man ganz bestimmt nicht besonders viel erkennen … hoffentlich.
Sie schlüpfte in ein Shirt mit Spaghettiträgern, Shorts und ein Paar Slipper und ging nach unten ins Erdgeschoss. In einer Stunde würde sie bei ihrer Mutter und bei Madeline anrufen. Aber zuerst wollte sie sich um den Garten kümmern.
Kennedy Archer fluchte, als er den Kaffee auf seiner Hose verschüttete. Schuld daran war die halb nackte Frau im Fenster. Evonnes Haus war noch nicht verkauft worden, und er hatte nicht damit gerechnet, jemanden am Fenster zu sehen. Schon gar nicht diese dunkelhaarige Schönheit, die ihm einen verschreckten Blick zugeworfen hatte. Und schon gar nicht so früh am Morgen. So, wie sie plötzlich zurückgeschnellt war, hatte sie offenbar nicht die Absicht gehabt, sich in ihrer ganzen Pracht zu zeigen. Ihr schöner Körper hatte sich dennoch bereits in sein Gedächtnis eingebrannt. Das würde wohl jedem so gehen. Seit dem Tod seiner Ehefrau vor zwei Jahren lebte Kennedy alleine.
“Daddy? Ist alles in Ordnung?”
Kennedy drückte das Handy fester gegen sein Ohr. Im selben Moment, in dem sein Sohn angerufen hatte, war ihm die Bewegung am Fenster aufgefallen – und er hatte laut aufgeschrien, als der heiße Kaffee sich über seinen Schoß ergoss.
“Alles klar, Teddy”, sagte er und versuchte verzweifelt, den nassen heißen Stoff seiner Hose nach oben zu ziehen, damit seine besonders empfindlichen Körperteile keinen Schaden nahmen. “Was gibt’s denn?”
Sein Sohn senkte die Stimme. “Ich will heute nicht bei Oma
Weitere Kostenlose Bücher