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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Ich muss dir das erzählen, weil ich es nicht glauben konnte. Immer noch erlebe ich Dinge in meinem Beruf, die ich nicht glauben will. Nach all der Zeit.«
    Vielleicht hörte Ann-Kristin ihm aus der Ferne zu.
    Es war fast Mitternacht.
    »Das Schuhband«, sagte er mit starrem Blick, »haben die Kollegen in einem Plastikeimer im Bad gefunden, zwischen Wattepads, Wattestäbchen, Taschentüchern und sonstigem Abfall. Sie hat den Jungen im Kinderzimmer liegen lassen, auf seinem Bett. Sie hat wohl nicht mal seinen Puls gefühlt. Er war still, das hat ihr genügt.«
    Er sah seine Freundin an, ihr Gesicht, ihre Augen, die vom Verband nicht bedeckt wurden. »Ich habe Valerie noch nie weinen sehen, sie gilt als die disziplinierteste Protokollantin im Präsidium. Manchmal, wie du weißt, lese ich Zeugen oder Verdächtigen vor dem Gespräch einen Vers aus der Bibel vor, oder ich sag einen Spruch auf, das ist mir diesmal nicht gelungen. Ich wusste, ich würde die Frau zum Sprechen bringen, und ich habe geahnt, dass es ein grausames Geständnis sein würde. Jetzt denke ich, vielleicht hätte ich vor dem Gespräch doch etwas vorlesen sollen.«
    Er saß auf dem Plastikstuhl, den Hut auf den Knien. Den Mantel, in dem noch immer ein fremder Geruch hing, hatte er aufgeknöpft, aber nicht ausgezogen.
    Er fror. Daran war er mittlerweile gewöhnt.
    »Der Vater des Jungen ist vor drei Jahren nach Rostock gezogen«, sagte Fischer. »Dort arbeitet er als Koch in einem Hotel in Warnemünde. Ein gebürtiger Spanier, er will morgen herkommen. Sie haben sich getrennt, er hatte eine neue Freundin, Eva-Maria hat ihm verboten, das Kind zu sehen. Sie waren nicht verheiratet. Er hat sich gefügt. Am Telefon brachte er kaum ein Wort raus. Er ist schockiert. Eine Oma gibt es auch noch, die Mutter von Eva-Maria. Angeblich durfte sie sich nur selten um ihren Enkel kümmern, ihre Tochter mochte es nicht, wenn sie auf José aufpasste, sie behauptete, die Großmutter ginge viel fürsorglicher und liebevoller mit José um als früher mit ihr. Immer dieselben Geschichten, dieselbe Egozentrik, dasselbe innere Gefängnis.«
    Er sah, dass Ann-Kristin schlief. Sie schlief schon die ganze Zeit. Außerhalb jeder Nähe, dachte Fischer. Dann streckte er den Arm aus und berührte die Bettdecke und blieb so, bis er beinah vornüberkippte. »Ich werde weitersuchen«, sagte er. »Obwohl der Brief, den der Junge mir geschickt hat, aus einem Hirngespinst entstanden ist.«
    Da war etwas wie ein Lächeln unter seiner wuchtigen Nase.
    Es fiel ihm nicht auf.
    »Marcel glaubte, was in Österreich möglich ist, könnte auch bei uns passieren. Dass ein Mensch über Jahre gefangen gehalten wird und überlebt. Auch ein kleines Mädchen, das dann heranwächst und sich normal entwickelt. Erinnerst du dich an das österreichische Mädchen? Als es in die Normalität zurückkehrte, war es selbstbewusst und hatte klare Vorstellungen von der Zukunft. Marcel malte sich aus, dass Scarlett freiwillig weggegangen ist, um frei von den Vorschriften ihrer Mutter groß zu werden. Und dann, stell dir das vor, sah er sie, mitten auf dem Marienplatz, und dieses fremde Mädchen, Silke, entsprach so sehr seinem Bild vonScarlett, dass er nicht anders konnte, als alles daranzusetzen, sie zu finden, auch mit meiner Hilfe. Und tatsächlich begegnete er ihr wieder, und es gelang ihm, sie zu überzeugen, sein Spiel mitzuspielen. Was für ein Glück für ihn: Das Mädchen will Schauspielerin werden, sie hat keine Probleme damit, in die Haut einer anderen Person zu schlüpfen. Du hättest den Text hören sollen, den er für sie geschrieben und den sie ausgeschmückt hat. In Marcels Welt lebt Scarlett. Er beschützt sie vor den Monstern der Realität. Das ist seine Funktion, so hat er sich selbst eine Rolle gegeben, eine Lebensrolle.«
    Er verstummte. Aber weil er das Sirren der Apparate nicht ertrug, sagte er: »Ich werde jetzt eine Stunde neben dir schlafen. Und danach suche ich weiter nach dem Mörder von Scarlett Peters. Bist du einverstanden? Denn dass sie noch lebt, glaube ich nicht.«
    Er schob den Stuhl zum Fenster, breitete seinen Mantel auf dem Boden neben dem Bett aus und legte sich auf den Rücken, den Hut auf dem Bauch, die Arme an den Körper gepresst.
    So fand ihn die Nachtschwester, gegen halb sechs Uhr am Morgen.

DRITTER TEIL

17
»Die Zeit geht drüber«
    Der Neue Südfriedhof in Perlach wirkt wie eine weitläufige Parkanlage mit kleinen Wäldern, wilden Wiesen, einem Weiher, über den eine

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