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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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blieb eine Frau mit einem schwarzen Kopftuch neben ihm stehen. Sie sah ihm ins Gesicht, aber er wollte kein Gespräch beginnen. Nachdem sie das Kreuz betrachtet hatte, ging sie mit müden Schritten weiter.
    Fischer war gekommen, um etwas zu sehen, das er nicht begreifen konnte und das er, je länger er es anschaute, nur noch weniger begriff.
    Was hatte Michaela Peters sich beim Kauf des Grabes gedacht? Im Krankenhaus hatte er sie nicht danach gefragt. Warum nicht? Falls sie nach Weimar zu ihrer Mutter ziehen würde, bliebe das Grab bestehen, und vielleicht verlängerte sie den Vertrag für weitere zehn Jahre.
    War das ihre Art zu trauern? Zu gedenken? Zu lieben? Konnte ein solches Empfinden wahr sein?
    Lebte womöglich nicht sie, die keine Rücksicht auf das an Schablonen gewöhnte Verhalten der Leute nahm, außerhalb der Liebe, sondern wir, dachte Fischer, die Spezialisten für alles Beweisbare?
    Waren sie überhaupt fähig, jemanden wie Michaela Peters in ihr System, für das sie bezahlt wurden, einzuordnen?
    Das Datum.
    Der 8. April.
    An diesem Tag hatte Michaela ihre Tochter für tot erklärt.
    Kein Glauben mehr.
    Geboren am 21. März, gestorben am 8. April, im Alter von neun Jahren.
    Zahlen. Ein Name. Das Grab neben dem Herzen aus Gras.
    Ohne einen Vorgedanken kniete Fischer nieder und nahm den Hut ab. So verharrte er und atmete den Geruch nach nasser Erde und altem Laub ein und senkte den Kopf.
    Er betete nicht. Er konnte nicht verstehen, warum er das Grab bis heute nicht besucht hatte.
    Vor dem Aufstehen schlug er ein Kreuz.
    Auf dem Weg zum Ausgang in der Nähe des hinter Strauchwerk und Bäumen liegenden Verwaltungsgebäudes drehte er sich noch einmal um. Er hob, als hätte er es beabsichtigt, die Hand und winkte. Ein flüchtiges, hilfloses Winken. Er sah wieder die Frau, die vorhin irritiert und neugierig neben ihm gestanden hatte. Sie kam den Weg vom Hügel herunter.Bei Fischers Anblick blieb sie stehen, zupfte an ihrem schwarzen Kopftuch, folgte mit den Augen der Richtung seines Winkens und bekreuzigte sich.
    Fischer wandte sich ab und spürte den Wind im Gesicht, der noch kälter geworden war. In der Manteltasche brummte sein Handy. Er sah auf die Nummer, wartete, bis das Geräusch verstummt war, und schaltete das Gerät ab. Was sollte er auf die Fragen seiner Kollegen groß antworten? Solange sie nicht wussten, was er tat, trugen sie keine Verantwortung. »Polizeiliche Integrität gewährleistet«, sagte Fischer auf dem Parkplatz zu Ann-Kristin und sah sie lächeln unter dem Kopfverband.
     
    Vom Foto her hätte Fischer ihn nicht erkannt.
    Eberhard Krumbholz war alt und dick geworden, nicht auf die gewöhnliche Weise, das Alter hatte ihn aufgedunsen, seine Fettleibigkeit hatte ihn altern lassen. Seine gelblich grauen Haare klebten ihm am Kopf, sein Gesicht zeigte keine Regungen, seine Blicke begegneten jedem Gast mit derselben trostlosen Leere.
    Jedes Mal, wenn Krumbholz seinen Platz hinter der Theke verließ, um zu servieren, stieß er einen Seufzer aus und zögerte eine Sekunde, bevor er sich in Bewegung setzte. Er zog das rechte Bein nach und schlurfte mit seinen abgetragenen flachen Schuhen über den Holzboden.
    »Bei Hardy« hieß sein Pilsstüberl in der Hechtseestraße, unweit des Michaelibades. Die Einrichtung bestand aus fünf ungedeckten Tischen, der Theke und zwei unaufhörlich blinkenden und schrille Töne von sich gebenden Spielautomaten. Niemand spielte. Zwei Männer saßen an der Bar und rauchten. Einer saß allein am Tisch vor dem Durchgang zu den Toiletten, trank Weißweinschorle und hielt sich die Zeitung so nah vors Gesicht, dass Fischer vermutete, derWein, den Krumbholz ausschenkte, sei auf Dauer ein Risiko fürs Augenlicht. Vielleicht versuchte der Gast auch nur die trübe Beleuchtung in der Kneipe zu überlisten oder so wenig Rauch wie möglich zwischen Pupillen und Schlagzeilen zu lassen.
    Fischer verkehrte selten in solchen Lokalen, ausschließlich dienstlich. Er trank nicht gern, er hielt sich für einen ungeselligen Gast, und wann er zum letzten Mal betrunken gewesen war, wusste er nicht mehr. Aber als er sich vorhin umgeschaut hatte, bekam er Lust auf ein frisches kaltes Bier, und er bestellte eines. Sogar der Zigarettenrauch störte ihn nicht wie sonst.
    An der Eingangstür hatte er ein gelbes Schild bemerkt: »Raucherclub. Werden Sie Mitglied.« Doch der Wirt sprach ihn nicht darauf an.
    Seit er das Lokal betreten, vielleicht schon seit er am leeren Grab gestanden hatte, war

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