Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
und er hatte es schon gewusst, bevor seine beide Exfrauen ihn in kontinuierlicher Unbarmherzigkeit darauf hingewiesen hatten, nicht nur bei Tanzabenden.
    Als er schnelle Schritte im Parterre hörte, dachte er, dass ihm zum Tanzen schon ewig nicht mehr zumute gewesen war.

16
»Ich kann das gar nicht mit anschauen«
    Ermittlungsergebnisse, Beweise, sogar Geständnisse, sagte Polonius Fischer, waren nichts weiter als »Annäherungen an den Radius der Wahrheit«. Sie reichten aus, einen Verdächtigen zu überführen und anzuklagen. Vor dem jedoch, was wirklich in dem einen Moment geschieht, der die Welt aller Beteiligten für alle Zeit verändert, versagt die Leuchtkraft der Beweise. Gerichtsverwertbare Fakten, sagte Fischer manchmal vor jungen Kollegen, mochten als Grundlage für ein unanfechtbares Urteil dienen, als Teleskop zum Erkennen eines Lichtjahre entfernten, blutenden Sternes taugten sie nicht im Geringsten.
     
    Sie schwankte vom Alkohol, den sie den Tag über getrunken hatte.
    Als sie das Kruzifix in der Ecke sah, zeigte sie mit ausgestrecktem Arm hin und streckte dem Gekreuzigten die Zunge raus.
    Die langen braunen Haare hingen ihr in Strähnen vom Kopf. Sie kratzte sich ständig, nicht nur am Kopf, auch an den Handgelenken und den Oberschenkeln. Sie hatte ein schmales, fein geschnittenes, beinah schönes Gesicht und trug einen rosafarbenen Anorak und ein bis über die Knie reichendes weißes Kleid voller dunkler Flecken.
    Auf dem Stuhl beugte sie sich vor und stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab, erschöpft, mit wirrer Miene und flatternden Blicken. Vermutlich hatte sie auch Tabletten oder Drogen genommen, aber Fischer wollte, nachdem LizSinkel und Sigi Nick die Frau in einem Stehausschank in der Nähe des Stiglmaierplatzes aufgespürt und zum Erkennungsdienst gebracht hatten, zuerst mit ihr sprechen, bevor sie von einem Arzt untersucht und in die Ausnüchterungszelle gebracht wurde. Da Valerie wie erwartet bei den noch immer andauernden Vernehmungen der Taxifahrermörder nicht dabei sein musste, protokollierte sie Fischers Gespräch.
    Die achtunddreißigjährige Eva-Maria Rinke war unter dem dringenden Verdacht festgenommen worden, ihren fünf Jahre alten Sohn getötet zu haben.
    Vor ihr auf dem kleinen viereckigen Tisch stand ein Plastikbecher mit Mineralwasser, den sie nicht anrührte. Ihre Antworten musste sie mehrmals wegen eines Hustenanfalls unterbrechen. Dann zog sie mit zitternden Fingern ein benutztes Stofftaschentuch aus der Jackentasche und tupfte sich die Nase. Ihre Alkoholfahne vermischte sich mit dem Geruch nach Zigarettenrauch und modriger Kneipenluft.
    »Sie hatten gestern Streit mit Ihrem Sohn José«, sagte Fischer. Wie so oft hatte er die Hände auf dem Tisch gefaltet und saß scheinbar seelenruhig da. Doch seine Seele war alles andere als ruhig.
    »Hatt ich nicht. Wer sagt so was?«
    »Nachbarn haben gehört, wie Sie geschrien haben.«
    »Ich? Ich nicht. Wann denn?«
    »Heute Morgen.«
    »Heut Morgen.« Sie hustete, kratzte sich an den Beinen, ihr Oberkörper wankte. »Weiß ich nicht mehr. Wo ist José? Ist er zu Haus?«
    »Nein«, sagte Fischer. »Er ist nicht zu Hause. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«
    Sie schüttelte heftig den Kopf. Valerie notierte das Verhalten der Frau auf ihrem Schreibblock.
    »Wann haben Sie José zum letzten Mal gesehen?«
    »Weiß nicht mehr. Heut früh.«
    »Haben Sie mit ihm gemeinsam gefrühstückt?«
    »Ja. Wir haben gefrühstückt, er und ich, und ich … und … ja …« Sie umklammerte mit der rechten Hand die Tischkante, ließ aber wieder los, als sie bemerkte, dass Fischer ihr zusah. Sie zeigte auf seine Nase. »Das ist mal ein Zinken, damit riechen Sie doppelt und dreifach so viel wie andere Leute. Ich wollt Sie nicht beleidigen, Herr …«
    »Fischer. Wie alt ist Ihr Sohn, Frau Rinke?«
    »Fünf ist der, im Juli wird er sechs, im Juni, neunzehnter Juni.« Sie betrachtete den Wasserbecher und hustete wieder. »Mir ist, glaub ich, nicht gut.«
    »Können Sie sich erinnern, was Sie nach dem Frühstück getan haben, Sie und José? Haben Sie ferngesehen?«
    »Das stimmt.«
    »Und dann haben Sie die Wohnung verlassen.«
    »Ja«, sagte Eva-Maria Rinke. »Immer sonntags, wir treffen uns bei der Kathie in der Schleißheimer vorn. Die Kathie macht Brunch für uns, Lachs, Schinken, Käse, Sekt, sie richtet das immer schön her, am Sonntag. Sie verlangt bloß zehn Euro von jedem, Getränke extra, das ist klar, sonst rechnet sich das

Weitere Kostenlose Bücher