Totsein verjaehrt nicht
Brücke führt, und gewundenen, von Gänseblümchen und Löwenzahn gesäumten Wegen. Obwohl auf den asphaltierten Zufahrtsstraßen gelegentlich die Fahrzeuge der städtischen Gärtnerei und der Friedhofsverwaltung unterwegs sind, hört man kaum Geräusche, höchstens das Rauschen von der nahen Unterhachinger Straße und der Salzburger Autobahn und vereinzelt das Zwitschern einer Amsel. Keine Krähen, wie auf anderen Friedhöfen. Hier und da ein Spaziergänger, der kein Grab besucht, sondern das geruhsame Schauen genießt.
Im Gegensatz zu den Grünflächen abseits des Gewässers, wo sich gepflegte Gräber aneinanderreihen, gibt es rund um den Dudweilerweiher bis hinauf zur Aussegnungshalle fast nur unberührte Wiesen, abgesehen von ein paar wie zufällig angeordneten Grabstätten in der Nähe des Südufers. Beschattet von Bäumen und Sträuchern, säumen sie eine ungewöhnliche Bepflanzung.
Auf der Parzelle 301 haben die städtischen Gärtner aus Gräsern, Blumen und Nadelgewächsen ein Herz geformt, auf dem im Frühjahr Rosen und später Gladiolen blühen. Es ist etwa zwei Meter breit und auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Hat man es jedoch einmal entdeckt, nimmt die Form, so scheint es, immer klarere Konturen an.
Vermutlich hätte Polonius Fischer das zu dieser Jahreszeit braune und unscheinbare Herz übersehen, hätte sichnicht links daneben das kleine Holzkreuz befunden, das er suchte.
Auf dem Kreuz stand der Name Scarlett Peters, ihr Geburtsdatum und – zuerst dachte Fischer, er hätte sich verschaut – ihr Sterbedatum: der 8. April vor sechs Jahren. Der Tag, an dem sie verschwunden war.
Heute, am 18. Februar, wehte ein biestiger Wind. Aber nicht vom Wind war Fischer kalt oder weil er den Mantel offen trug und viel zu wenig geschlafen hatte.
Als Fischer und seine Kollegen damals mit der Suche gerade begonnen hatten und erste Pläne für eine Besondere Aufbau-Organisation erstellten, als noch niemand wusste, wann genau das Mädchen verschwunden und noch kein einziges Alibi überprüft, noch niemand aus dem Freundeskreis der Familie vernommen worden und noch keine Suchmannschaft im Aufbruch war – schon zu diesem Zeitpunkt hatte Michaela Peters offensichtlich jede Hoffnung aufgegeben und beschlossen, von ihrer Tochter für immer Abschied zu nehmen.
Oder sie hatte gewusst, was mit dem Kind geschehen war und dass es nicht zurückkehren würde.
Dann hätte sie sich mit der Inschrift verraten, allerdings ohne Konsequenzen. Einen Tag nach der Verurteilung von Jockel Krumbholz unterschrieb Michaela Peters bei der städtischen Friedhofsverwaltung den Vertrag für ein leeres Grab auf dem Neuen Südfriedhof. Das bedeutete, dass sie sich auf das Todesdatum lange vorher festgelegt haben musste. Niemand kümmerte sich darum. Fischers Kollegen erfuhren erst ein halbes Jahr später davon. Eine Frau, die das Grab ihres verstorbenen Mannes besuchte, hatte das Kreuz entdeckt und, da sie den spektakulären Fall aus der Presse kannte, gegenüber der Polizei ihren Unmut über das »gottlose Verhalten der Mutter« kundgetan.
Was hätten die Ermittler tun sollen? Sie wunderten sich. Sie überprüften noch einmal Michaelas Aussagen und stellten erneut Unstimmigkeiten fest. Doch da der Bundesgerichtshof ein Jahr später das Urteil bestätigte, blieb ihnen nichts, als die Akten endgültig zu schließen.
Moralische Bedenken? Bei dem einen Kommissar mehr, bei dem anderen weniger. Die Moral, sagte Fischer oft, ist eine launische Diva, die bei der Aufklärung eines Verbrechens niemandem hilft. Ihn selbst trieben die größten Zweifel um, doch sein Respekt vor der Justiz verbot ihm, laut Kritik zu üben.
Nun stand er hier, vor einem leeren Grab, noch immer getrieben von Zweifeln, wie er sie seit seiner Zellenzeit nicht mehr gehabt hatte. Als die Krankenschwester ihn geweckt hatte, war er sofort wach gewesen und nach einem Kuss auf Ann-Kristins Stirn aus dem Zimmer gestürzt und in die Burgstraße gefahren, wo er zwei Stunden lang ein weiteres Mal die alten Akten studierte. Bevor der erste seiner Kollegen erschien, saß er schon in seinem Auto in Richtung Perlach.
Der kleine Rosenstrauch, den Michaela Peters vor dem Kreuz gepflanzt hatte, sah vertrocknet und abgestorben aus. Das Grab hatte keine Umrandung. Die braune, trockene Erde war rechteckig aufgeschüttet, ein paar mickrige Grashalme sprossen hervor.
Eine halbe Stunde stand Fischer da und sprach leise den Namen und die Daten vor sich hin, wieder und wieder. Einmal
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