Träum weiter, Liebling
so.«
Sie blickte hinüber zu dem kleinen, hölzernen Ticketschalter, in dem sich das Telefon befand. Er war frisch gestrichen worden, in Senfgelb und Lila, denselben knalligen Tönen wie auf dem Schild, doch sie machte keine Anstalten, dorthin zugehen. Sie hatte weder Geld fürs Abschleppen noch für die Reparatur, und ihre Kreditkarten hatte man ihr schon vor langer Zeit weggenommen. Da sie Edward nicht einer zweiten Begegnung mit dem knurrigen Besitzer des Autokinos aussetzen wollte, zog sie ihn weiter, ein Stück die Straße entlang. »Meine Beine sind ganz steif vom langen Sitzen im Auto. Ich könnte einen kleinen Spaziergang vertragen. Was meinst du?«
»Okay.«
Er schlurfte zögernd den staubigen Straßenrand entlang, und da wusste sie, dass er noch immer verängstigt war. Ihr Zorn auf Pisskopf wuchs. Was für ein Arschloch benimmt sich so einem Kind gegenüber?
Sie griff durchs offene Wagenfenster und holte eine blaue Plastikflasche mit Wasser und die letzten paar schrumpeligen Orangen heraus, die sie von einem Obststand mit heruntergesetzten Waren ergattert hatte. Während sie ihr Kind zu einer kleinen Baumgruppe auf der anderen Seite der Landstraße dirigierte, machte sie sich erneut heftige Vorwürfe, weil sie Clyde Rorsch nicht nachgegeben hatte, der bis vor sechs Tagen ihr Boss gewesen war. Sie hatte ihm eins über den Kopf gehauen, als er versuchte, sie zu vergewaltigen, dann hatte sie sich Edward geschnappt und Richmond für immer den Rücken gekehrt.
Jetzt wünschte sie, sie hätte nachgegeben. Wenn sie mit ihm geschlafen hätte, dann könnten sie und Edward jetzt mietfrei in einem Zimmer in Rorschs Motel wohnen, wo sie als Zimmermädchen gearbeitet hatte. Warum hatte sie nicht einfach die Augen zugemacht und ihn gewähren lassen? Skrupel waren ein Luxus, den man sich nicht leisten konnte, wenn das eigene Kind Hunger litt und kein Dach über dem Kopf hatte.
Sie schaffte es bis Norfolk, als der Kühler ihres klapprigen Impalas den Geist aufgab, und die Reparatur verschlang einiges von ihren ohnehin mageren Geldreserven. Sie wusste, dass andere Frauen in ihrer Lage um finanzielle Unterstützung beim Staat ersucht hätten, doch das kam für sie nicht in Frage. Vor zwei Jahren, als sie und Edward in Baltimore wohnten, war sie gezwungen gewesen, genau das zu tun. Die Dame vom Sozialamt hatte sie damals mit der Frage überrascht, ob sie denn überhaupt in der Lage wäre, für Edward zu sorgen. Sie meinte, es wäre kein Problem, den Jungen vorübergehend in eine Pflegefamilie zu geben, bis Rachel wieder auf die Füße gekommen war. Sie mochte es ja gut gemeint haben, doch Rachel erschreckten ihre Worte zu Tode. Bis zu diesem Augenblick war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass man versuchen könnte, ihr Edward wegzunehmen. Sie war noch am selben Tag aus Baltimore geflohen und hatte geschworen, sich nie wieder an eine staatliche Stelle um Unterstützung zu wenden.
Seitdem ernährte sie sich und ihr Kind mit mehreren, mies bezahlten Jobs, was ihr gerade genug zum Überleben einbrachte, aber nicht genug, um etwas beiseite zu legen, so dass sie wieder zur Schule gehen und einen ordentlichen Beruf lernen konnte. Ein weiteres, großes Problem war, eine gute Betreuung für Edward zu finden, während sie arbeitete. Dafür ging eine Menge von ihrem ohnehin mageren Lohn drauf, und es machte sie außerdem krank vor Sorge - eine Babysitterin beispielsweise hatte Edward den ganzen Tag vor den Fernseher gesetzt, während eine andere ihren Freund schickte und selbst einfach verschwand. Dann hatte Edward auch noch Lungenentzündung bekommen.
Als er das Krankenhaus schließlich wieder verlassen durfte, hatte sie ihren Job bei einer Fast-Food-Kette wegen zu häufigen Fehlens verloren. Die Krankenhauskosten hatten alles verschlungen, was sie besaß, einschließlich ihrer jämmerlich kleinen Ersparnisse, und sie saß obendrein auf einer Arztrechnung, die sie nie im Leben würde bezahlen können. Außerdem brauchte das Kind auch jetzt noch sorgfältige Pflege, um sich wieder ganz erholen zu können, und zu allem Übel hatte man ihr einen Räumungsbescheid wegen unterlassener Mietzahlungen in ihr heruntergekommenes, kleines Apartment geschickt.
Sie hatte Clyde Rorsch angefleht, sie in einem der kleineren Motelzimmer mietfrei wohnen zu lassen, und versprochen, dafür ihre Arbeitszeit verdoppeln. Aber er wollte mehr als das - er wollte Sex auf Abruf. Als sie sich weigerte, wurde er wild, und sie musste ihm das Bürotelefon
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