Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traeum weiter, Mann

Traeum weiter, Mann

Titel: Traeum weiter, Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nebe
Vom Netzwerk:
schnarrt sie und schaut ihn erwartungsvoll an.
    »Wie?«, wundert sich Gerald. »Schreibt ihr alle?«
    »Nein«, antwortet eine Dunkelhaarige mit unzähligen Locken und einem extrem schmalen Mund. »Aber wir lieben Literatur.«
    So wie sie es sagt, hört es sich an wie eine mathematische Formel.
    Gerald knipst sein einladendes Verkäuferlächeln an. »Dann bin ich hier genau richtig!«
    Henrike Petersen-Sagromsky bleibt misstrauisch.
    »Kannst du das beweisen?«
    »Ja!«
    Gerald räuspert sich, es ist riskant, aber er legt einfach los:
    »Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt.
    Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.
    Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
zurückblieb, so als wärens alle Frauen
und dennoch klein und weiß und nichts als dies:
    Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
ein leise Weiterwinkendes –, schon kaum
erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.«
    Er fügt hinzu: »Abschied, von Rainer Maria Rilke.«
    Die Frauen schweigen.
    Gerald weiß, das war weit entfernt vom Vortrag eines Rezitators, aber die Frauen haben gemerkt, dass er dieses Gedicht mag. Steff schaut ihn ergriffen an, ihre Augen leuchten. Es ist das Gedicht, das er sich während der Rückfahrt aus Kopenhagen aus dem Netz gezogen hat. Zur Übung hat er sich zwei Hörproben von Schauspielern angehört, die die Verse für seine Ohren allerdings total übertrieben betont vortrugen.
    Gerald lächelt still in sich hinein. Er wusste, dass er das Gedicht bei Steff mal brauchen würde, er hatte nur nicht damit gerechnet, dass es schon so bald sein würde. Es hat sogar nach einer Flasche Wein funktioniert! Und das bei einem, der im Jahr höchstens fünf Bücher liest, wovon vier Fachliteratur sind. Der einzige Roman ist meistens Platz 1 der Bestsellerliste, in der Regel ein Technothriller, bei dem es darum geht, die gesamte Welt aus einer bedrohlichen Lage zu befreien. Er ist den Rilke angegangen wie ein professioneller Verkäufer, der sich vorher über die Interessen seiner anspruchsvollen Kunden informiert hat, um sie unauffällig im Gespräch zu platzieren: Golf, Segeln, Angeln, Partys, Kunst. Steff bringt ihn wirklich auf Höchstform.
    »Wow«, lobt sogar Henrike Doppelname. »Das hatte was.«
    »Entschuldige, Heiner«, sagt Gerald mit gespielter Bescheidenheit. »Mach du bitte weiter.«
    Deuters steht der Mund offen, er nimmt seine Zettel in die Hand und haspelt sich einen zurecht.
    »Zunächst mochte es, wie so oft im November, den ganzen Tag gar nicht hell werden ... ähh, Entschuldigung.«
    Er räuspert sich und bekommt einen Hustenanfall.
    »In der Nacht zuvor ... äh ... hatte es den ersten Frost gegeben, und eine helle Reifschicht bedeckte die weite Ebene, die sich am Ende mit dem Himmel zusammenschloss ...«
    Gerald lächelt spöttisch, aus Deuters Mund klingt der Text wie der einer Saatkrähe beim Verrecken, als Vorleser ist er ein Vollversager. Deuters merkt es selbst und kämpft verzweifelt dagegen an, seine Landschaftsbeschreibung klingt geradezu verärgert: »Friederike war auf dem Deich der höchste Punkt in der Landschaft und vor den riesigen Himmeln doch so klein. Plötzlich fand die Sonne ihren Weg durch den Hochnebel und füllte die ganze Weite mit warmem, rotem Licht.
    ›Die Novembersonne ist besonders wertvoll‹, freute sich Friederike und wurde plötzlich sehr optimistisch. Alles würde sich lösen, noch heute!«
    Doch dann passiert leider ein kleines Wunder, bei Friederike ebenso wie bei Deuters. Deuters Wut kippt um in pure Energie, er nimmt hörbar Fahrt auf, taucht in die Sätze ein und atmet mit seiner Figur mit. Geralds Rilke erscheint dagegen im Nachhinein wie ein Taschenspielertrick. Kein Wunder, dieser Deuters ist eben Profi und hat schon vor Tausenden Leuten gelesen. Gerald blickt auf Steff, die so sehr auf Deuters konzentriert ist, dass sie seinen Blick gar nicht wahrzunehmen scheint. Er möchte ihre Lippen spüren – jetzt, sofort, bitte! Gerald fühlt deutlich, wie er beim bloßen Zuhören innerlich in sich zusammenfällt, die ganze Aufregung hat seinen Alkoholpegel perfekt überspielt, aber jetzt wird er müde und phlegmatisch.
    Wenn er Steff nicht küssen kann, interessiert ihn dieser Tag nicht mehr. Dann möchte er nur noch schlafen, und zwar so tief und so lange wie möglich.
    Deuters legt gerade mit

Weitere Kostenlose Bücher